Brüssel/London. Stimmung in den Verhandlungen zwischen London und Brüssel auf dem Tiefpunkt – Premierminister will Spitzentreffen, von der Leyen zögert.

Vier Monate nach dem EU-Austritt Großbritanniens ist die Stimmung zwischen London und Brüssel auf dem Tiefpunkt. Der britische Premierminister Boris Johnson schimpft, die EU müsse „endlich aufwachen“ und die politischen Realitäten erkennen. Sein Unterhändler David Frost beklagt, die EU habe den Briten nur einen „unfairen“ und „relativ minderwertigen“ Handelsvertrag angeboten, ihr Ansatz sei „ideologisch“.

EU-Chefverhandler Michel Barnier keilt zurück: „Ich mag den Ton nicht, mit dem Sie über das gegenseitige Vertrauen sprechen, das entscheidend für uns ist“, kanzelte Barnier den britischen Counterpart ab. Der Franzose warnt jetzt offen vor einem Scheitern der Verhandlungen über den Handelsvertrag mit dem Vereinigten Königreich.

Den Vertrag werde Brüssel nicht um jeden Preis abschließen, versichert Barnier. Großbritannien habe „einen Schritt zurückgemacht hinter seine ursprünglichen Zusagen“ – nein, „zwei, drei Schritte zurückgemacht“. Denkbar schlechte Voraussetzungen für die neue Verhandlungsrunde zwischen der EU-Kommission und der britischen Regierung, die am Dienstag per Videokonferenz begann.

Trotz prekärer Lage: Johnson lehnt Verlängerung der Übergangsphase ab

In Brüssel wächst die Besorgnis: Kommt nach der laufenden Übergangsschonfrist also doch ein No-Deal-Brexit – zum Schaden von Wirtschaft und Bürgern in Europa? Der Chef des Handelsausschusses im EU-Parlament, Bernd Lange (SPD), warnte am Dienstag: Wenn sich die britische Regierung nicht bewege, „müssen wir uns auf einen ungeregelten, einen harten Brexit zum 1. Januar 2021 einstellen“. Das aber, so klagt die Grünen-Handelsexpertin Anna Cavazzini, sei „das Letzte“, was die Corona-geplagte Wirtschaft auf beiden Seiten des Ärmelkanals gebrauchen könne: „Johnson spielt mit dem Feuer.“

Die Uhr tickt: Bis Jahresende müssen sich London und Brüssel auf ein Handelsabkommen und andere Verträge verständigt haben – dann läuft die Übergangsphase aus, in der sich das Vereinigte Königreich noch an die EU-Regeln hält und derweil dem Binnenmarkt und der Zollunion angehört. Ohne neue Verträge müssten zum 1. Januar 2021 beim Handel zwischen Insel und Kontinent Zölle und umfangreiche Grenzkontrollen eingeführt werden. Auf Antrag Großbritanniens, möglich bis Ende Juni, ließe sich die Übergangsphase zwar um zwei Jahre verlängern. Doch das lehnt Johnson weiter ab.

Die Regierung ist bei den Briten im Wort und fürchtet, dass sich Großbritannien bei längerer Schonfrist an den milliardenteuren Corona-Rettungspaketen der EU beteiligen müsste. Bleiben die Verhandlungen. Aber in den bisherigen drei Runden gab es kaum Fortschritte. Brüssel fordert, dass EU-Fischer weiter in britischen Gewässern fischen dürfen, London lehnt das als Eingriff in die nationale Souveränität ab und will jedes Jahr neu über Fangquoten verhandeln.

Stimmung zwischen den Delegationen auf dem Nullpunkt

Brüssel will, dass die Briten für den Zugang zum Binnenmarkt die Rechtsprechung der EU anerkennen und EU-Standards dauerhaft einhalten, auch bei künftigen Verschärfungen. Die britische Regierung sagt Nein und fordert, dass Großbritannien nicht schlechter gestellt wird als Kanada oder Japan, die in ihren Handelsverträgen so weitgehende Klauseln nicht unterschreiben mussten. Auf dieser Basis werde es kein Abkommen geben, erklären Johnsons Unterhändler.

Kompromisse sind indes kaum in Sicht. Die Verhandlungen leiden darunter, dass die beiden Delegationen mit jeweils rund hundert Beamten wegen Corona nur per Videokonferenz tagen können. Inzwischen ist die Stimmung so schlecht, dass ein Durchbruch in der vierten Runde bis Ende dieser Woche von vornherein ausgeschlossen wurde.

Johnson spekuliert auf Abkommen mit den USA

In Brüssel hegen immer mehr Beteiligte den Verdacht, dass Johnson gar keine Verständigung mehr wolle, um möglichst ungehindert den Wettbewerb mit der EU anzutreten. Johnson kalkuliere damit, dass sich der durch einen No-Deal verursachte Schaden für die britische Wirtschaft auf die Corona-Pandemie schieben lasse, ahnt EU-Handelskommissar Phil Hogan.

Johnson bestreitet das und spielt den Ball zurück nach Brüssel. Er kündigt an, bei einem Spitzentreffen mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Ende Juni die größten Hürden für eine Verständigung persönlich ausräumen zu wollen. Daraus könne ein politisches Momentum für die Verhandlungen werden, heißt es.

Doch von der Leyen scheut ein Treffen mit dem gerissenen Premier. Ihre Beamten vermeiden auf Nachfragen jede Festlegung, ob die Präsidentin Johnsons Offerte annimmt. Fürchtet sie einen Misserfolg? Ihr Chefverhandler Barnier versichert, sollten die Verhandlungen scheitern, hätten die Briten den größeren Schaden. Johnson indes glaubt, er habe im Verhandlungspoker noch einen Joker: Parallel arbeitet er an einem Freihandelsvertrag mit den USA. Bis Jahresende soll eine Verständigung erzielt sein.

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