London. Der britische Premier wirkt planlos und fahrig. Der Kurs von Boris Johnson in der Corona-Krise und beim Brexit sorgt für großen Unmut.
Boris Johnson ist in diesen Tagen nur selten zu sehen. Wenn sich Großbritanniens Premier doch einmal in die Öffentlichkeit traut, gibt er kein gutes Bild ab. Bei der Fragestunde im Parlament vor wenigen Tagen wirkte er fahrig, verunsichert und zerstreut. Vor einem fast leeren Unterhaus – auch im britischen Parlament gelten Corona-Abstandsregeln – musste sich der neue Labour-Chef Keir Starmer keine große Mühe geben, Johnson wegen der Versäumnisse der Regierung rhetorisch zu zerpflücken.
Der Premier hat allen Grund, nervös zu sein: Schließlich hat Großbritannien mit derzeit offiziell etwa 35.000 Opfern mittlerweile die höchste Zahl an Corona-Toten in Europa. Weltweit sind nur in den USA mehr Menschen im Zusammenhang mit dem Virus gestorben. Überall im Land mangelt es an Schutzausrüstung und an Tests.
Immer mehr Briten geben Johnson und seiner Regierung die Schuld an dieser Misere. Denn Johnson hatte zu Beginn der Krise etliche Wochen verstreichen lassen, bevor sich die Regierung ernsthaft mit der drohenden Pandemie befasste.
Coronavirus und Brexit: Johnson gefährdet Leben und die Wirtschaft
Vor wenigen Monaten war Johnson noch mit einem ganz anderen Thema beschäftigt: dem Brexit. Nach dem jahrelangen Hickhack ist Großbritannien am 31. Januar fast schon unbemerkt aus der EU ausgetreten. Bis Ende des Jahres gilt eine Übergangszeit. Das Vereinigte Königreich ist noch im EU-Binnenmarkt und wendet die Standards der Gemeinschaft an. Aber derzeit herrscht in den Gesprächen zwischen Brüssel und London Stillstand.
Kommt es bis zum 31. Dezember nicht zu einem Abkommen über die künftigen Handelsbeziehungen, drohen die Einführung von Zöllen und der Absturz der Wirtschaftsbeziehungen zwischen Großbritannien und Europa.
Erst ignorant, dann kurz vor dem Tod
Der Premier wirkt überfordert. Anfang Februar widmete sich Johnson in einer Rede zwar kurz der drohenden Pandemie, aber er wiegelte ab: Man dürfe nicht in Panik verfallen. Er schüttele weiter allen Leuten, die er treffe, die Hand.
Offenbar hatten ihn Forscher des Imperial College in London danach umgestimmt. Die waren in ihren Modellrechnungen zu dem Schluss gekommen, dass bis zu eine halbe Million Briten ums Leben kommen könnten, wenn keine Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie ergriffen würden. Johnson selbst bezahlte für seine betont lässige Haltung fast mit dem Leben. Er erkrankte selbst so stark an dem Virus, dass er daran fast gestorben wäre.
Johnson verliert seine Glaubwürdigkeit – und an Popularität
Als er Ende April erstmals wieder an die Öffentlichkeit trat, wirkte er geläutert. Johnson warnte eindringlich davor, den Lockdown verfrüht aufzugeben. Doch zu diesem Zeitpunkt drängten bereits vermögende Tory-Parteispender und Unternehmen, die Wirtschaft des Landes wieder anzufahren.
Johnson gab nach. Er erklärte, dass ab Mittwoch wieder alle Briten, die nicht von zu Hause arbeiten könnten, zur Arbeit gehen sollten. Kritiker befürchten, dass die überhastet wirkende Öffnung schnell nach hinten losgehen könnte. In der Öffentlichkeit nimmt der Unmut zu. Die Zustimmungsrate der Regierung sank von 42 Prozent im März auf derzeit 39 Prozent. Und Labour-Chef Starmer hat Johnson in den Beliebtheitsumfragen bereits überholt.
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