Düsseldorf. Allein im vergangenen Jahr sind in NRW mehr als 120.000 Menschen aus der Kirche ausgetreten. Das ist noch einmal ein erheblicher Anstieg
Die Zahl der Kirchenaustritte ist 2019 in Nordrhein-Westfalen sprunghaft angestiegen. Insgesamt traten im vergangenen Jahr 120.188 Menschen aus der Kirche aus, wie das Justizministerium in Düsseldorf am Mittwoch der Deutschen Presse-Agentur mitteilte. Das waren deutlich mehr als im Jahr zuvor - 2018 hatten 88.510 Menschen den Kirchen den Rücken gekehrt. Und schon damals bedeutete das einen erheblichen Anstieg. Aus den neuen Zahlen lässt sich allerdings nicht ablesen, wie sich die Austritte nach Konfession aufschlüsseln.
Allein in der Zuständigkeit des Amtsgerichts Köln wandten sich mehr als 10.000 Menschen von der Kirche ab. Ein aktueller Anlass für den plötzlichen Anstieg der Austrittszahlen ist nicht ersichtlich, jedenfalls gab es im vergangenen Jahr keinen akuten Skandal so wie 2013 die Geldverschwendungsvorwürfe gegen den Limburger Bischof Franz-Peter Tebartz-van Elst. Allerdings blieb das ganze Jahr über die Aufarbeitung des Missbrauchsskandals in der katholischen Kirche ein großes Thema.
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In den Kirchen scheint angesichts der deprimierenden Entwicklung Ratlosigkeit vorzuherrschen. Sowohl Vertreter der katholischen als auch der evangelischen Kirche teilten am Mittwoch mit, sie wollten die Zahlen vor einer Reaktion zunächst gründlich analysieren. „Grundsätzlich ist es eine Daueraufgabe, den Menschen deutlich zu machen, warum es gut ist, zur Kirche zu gehören“, teilte der Sprecher der Evangelischen Kirche im Rheinland, Jens Peter Iven, mit.
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„Dieser anhaltende Trend ist schmerzlich und traurig“
Der Essener Generalvikar Klaus Pfeffer sagte, die Zahlen überraschten ihn nicht. Sie spiegelten „den enormen Vertrauens- und Glaubwürdigkeitsverlust insbesondere der katholischen Kirche“ wider. „Dieser anhaltende Trend ist schmerzlich und traurig.“ Umso wichtiger seien alle Anstrengungen einer ernsthaften Erneuerung der Kirche. „Auf eine solche Erneuerung warten sehr viele Katholikinnen und Katholiken schon seit vielen Jahren.“ Er sei froh, dass die Erneuerungsdebatten immer offener und deutlicher geführt würden. „Dieser Weg ist zweifellos konfliktreich und schmerzlich aber für mich auch alternativlos“, sagte Pfeffer, der innerhalb der katholischen Kirche für seine kritische und offene Haltung bekannt ist.
Der Kirchenrechtler Thomas Schüller zeichnete ein düsteres Bild: „Insgesamt ist das für die Kirchen dramatisch“, sagte der Münsteraner Professor. „Jetzt gehen auch die von der Fahne, die sich das vor zwei oder drei Jahren noch nicht hätten vorstellen können. Man kann es wirklich als Kernschmelze betrachten.“Aus vielen Gesprächen in der katholischen Kirche wisse er: „Es treten nun auch die aus, die der Kirche wirtschaftlich weh tun - die Babyboomer-Generation, die wirtschaftlich gut dasteht.“ Das werde den Handlungsspielraum der Kirchen in absehbarer Zeit einschränken. „Es hat ein hohen Bedrohungspotenzial für die wirtschaftliche Handlungsfähigkeit.“ Die Kirchen würden um Einschnitte nicht herumkommen.
Gläubige haben Vertrauen verloren
„Das ist eine Rote Karte, die die Gläubigen den Kirchen zeigen“, sagte Schüller. „Sie haben das Vertrauen verloren, dass diese Kirche noch reformfähig ist.“
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Der Religionssoziologe Detlef Pollack erklärte, dass ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren denkbar sei. „Auf katholischer Seite hat uns im vergangenen Jahr die Aufarbeitung des Missbrauchs begleitet, die in den Augen vieler Beobachter nur schleppend voran geht. Zugleich kann eine Rolle spielen, dass mehr Menschen das Gefühl haben, in einer ökonomisch angespannten Situation zu leben.“ (dpa)