Essen. . Religionspädagoge Ulrich Riegel erforscht das Verhältnis der Menschen zur Kirche – und kennt Gründe warum, warum viele ihr den Rücken kehren.

Es gibt nicht den einen Grund, warum Menschen aus der Kirche austreten. Es sind meist viele Enttäuschungen oder Ärgernisse, die sich im Laufe der Zeit ansammeln und dazu führen, dass Gläubige sich abwenden. Entfremdung, fehlende Bindung an die Gemeinde, Wut über die Missbrauchsaffären oder Ärger über eine verstaubte Haltung der Kirche können die Auslöser sein, sagt der Siegener Theologe und Religionspädagoge Ulrich Riegel. Er hatte für das Bistum Essen im letzten Jahr 3000 Männer und Frauen befragt, warum sie weiterhin Kirchenmitglied oder bereits ausgetreten sind.

Professor Ulrich Riegel, Religionspädagoge an der  Universität Siegen
Professor Ulrich Riegel, Religionspädagoge an der Universität Siegen

Hinter den zunehmenden Kirchenaustritten sieht Riegel auch einen großen Trend der Zeit am Werk: die zunehmende Individualisierung. „Alle großen Institutionen haben das Problem, dass sich Mitglieder nicht mehr dauerhaft binden wollen. Der ADAC, die Gewerkschaften, die politischen Parteien.“ Junge Menschen setzten sie sich gerne für konkrete Ziele ein – nur nicht unbedingt für ewig.

„Das tut nicht weh“

Zu Anlässen wie Weihnachten, Trauung, Taufe oder Beerdigung ziehe es die Menschen noch in Scharen in die Kirchen, doch dahinter stehe eher ein kulturelles Muster, eine Gewohnheit. „Es gibt noch Menschen, die Kirche ernst nehmen und den Auftrag Jesu als verbindliche Leitlinie verstehen. Doch das ist ein vergleichsweise geringer Prozentsatz“, so Riegel.

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Mitglied zu werden, sei hingegen einfach und gehe schnell. „Mit der Taufe passiert das automatisch, das tut nicht weh.“ Wer dann „passives Mitglied“ bleibe, müsse keine Sanktionen befürchten. Oft würden sich viele ihrer Mitgliedschaft erst bewusst, wenn Kirchensteuern fällig werden. Das passt zu der Erkenntnis, dass bei den 25- bis 35-Jährigen die Zahl der Austritte besonders hoch ist – die Phase des Berufseinstiegs.

Kosten-Nutzen-Abwägung

„Dann kommt eine Art Kosten-Nutzen-Kalkül ins Spiel.“ Ist mir das zu teuer? Was macht die Kirche mit dem Geld? Bekomme ich leichter einen Kita-Platz, wenn ich Mitglied bleibe? Träume ich von einer kirchlichen Hochzeit? Möchte ich Pate werden? Wünsche ich mir später ein christliches Begräbnis? Je weniger Beziehung man zur Kirche habe, desto pragmatischer werde abgewogen. Riegel: „Im ADAC bleibe ich ja auch nur, wenn die Pannenhilfe stimmt.“

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Aber es gebe nicht nur diese Pragmatiker. Die Kirche erfülle auch heute noch das Bedürfnis, in einer Gemeinschaft den Glauben leben zu können. In den Gemeinden engagierten sich viele Menschen, weil sie sich aufgehoben fühlten. „Die Streitfrage ist nur, wie viele es noch sind“, meint Riegel. Kirche könne auch der Ort sein, wo man Anschluss bekommt und der Vereinsamung entfliehen kann. „Ich denke, das Bedürfnis nach dem, was Kirche anbietet, wird weiter bestehen bleiben.“ Trotz aller Enttäuschungen und Skandale.