Düsseldorf. Jahrelang wurden verrufene Ort eher beschönigt als kontrolliert. Mit klaren Ansagen und Großrazzien werden nun die Kreise der Clans gestört.

Als Arnold Plickert im Sommer 2015 zum ersten Mal öffentlich über „No-Go-Areas“ in Nordrhein-Westfalen spricht, bricht der damalige Landesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP) damit ein Tabu. Plickert, ein hemdsärmeliger Hauptkommissar aus Wanne-Eickel, ist die Wortklauberei einfach leid. Wie soll man Angsträume sonst nennen, in denen Polizeibeamte bei Streifenfahrten schnell von 50-köpfigen Gangs umringt werden? Was wäre die politisch korrekte Bezeichnung für Straßenzüge, in denen türkisch-arabische Familien ungestört Drogenhandel treiben, Staatsorgane verachten und offen ihren Machtanspruch ausleben?

Für Plickert sind das umgangssprachlich „No-Go-Areas“, und er nennt seinerzeit als Beispiele Teile von Duisburg-Marxloh, bestimmte Straßenzüge in Essen-Altenessen und Gegenden in der Dortmunder Nordstadt, aber auch das Maghreb-Viertel in Düsseldorf-Oberbilk oder die Hochhaussiedlung Kölnberg in Köln. Wo sich Bürger unwohl fühlen und nachts lieber keinen Fuß hinsetzen, droht der Staat das Gewaltmonopol zu verlieren.

"No-Go-Areas"? Landesregierung in Nöten

Die damalige rot-grüne Landesregierung bringen die Aussagen des einflussreichen Gewerkschafters und verdienten Sozialdemokraten Plickert in arge Nöte. Bis dahin ist die offen ausgesprochene Warnung vor Parallelgesellschaften und der Hinweis auf das Wegkippen ganzer Viertel immerzu als „rechtspopulistisch“ abgetan worden. Lieber fabuliert man im beschönigenden Soziologen-Deutsch über „multikulturell geprägte Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf“. Wenn aggressive Horden Streifenpolizisten in die Flucht schlagen, sind das bedauerliche Einzelfälle.

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Noch wenige Wochen vor der Landtagswahl 2017 versucht das Innenministerium die unliebsame Debatte einzufangen, indem bei einem eigens anberaumten Abendtermin der versammelten Landespresse ein Bezirksbeamter aus der Dortmunder Nordstadt und ein Sozialarbeiter aus Essen-Altenessen vorgeführt werden. Sie müssen als Kronzeugen herhalten für die regierungsamtliche Botschaft: Es gibt in Nordrhein-Westfalen keine No-Go-Areas, keine rechtsfreien Räume, allenfalls Problembezirke, die man nicht auch noch schlecht reden dürfe.

Herbert Reul ordnet Lagebild zur Clan-Kriminalität

Seither hat sich die Debatte ziemlich gedreht. Mit dem Regierungswechsel 2017 ordnet der neue CDU-Innenminister Herbert Reul nur drei Wochen nach seiner Vereidigung in einem Erlass die Erstellung eines landesweiten Lagebildes zur „Clan-Kriminalität“ an. Das hat zuvor noch kein Bundesland gemacht.

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Das Landeskriminalamt soll schonungslos analysieren, inwieweit türkisch-arabische Großfamilien in bestimmten Vierteln durch aggressives Auftreten und Straftaten die Bevölkerung einschüchtern oder öffentliche Räume für sich zu reklamieren. Viel zu lange sei das Problem aus Angst vor Stigmatisierung bestimmter Bevölkerungsgruppen verharmlost worden, glaubt Reul.

Seitdem gibt es regelmäßig Großrazzien der Polizei

Regelmäßig rücken seither Großaufgebote der Polizei zu Razzien im Ruhrgebiet aus und durchkämmen Shisha-Bars oder einschlägige Diskotheken. Kritik der Landtagsopposition, Reul stelle bei Show-Aktionen mit viel Medienbegleitung bloß ein paar Gramm unversteuerten Tabak sicher, lässt der Innenminister an sich abperlen. Seine Fachleute betonen vielmehr einen dreifachen Effekt solcher Großrazzien:

  1. Wenn regelmäßig uniformierte Hundertschaften durch die Reviere der Clans patrouillierten, störe das deren Geschäfte.
  2. Das Sicherheitsgefühl der Bürger werde gleichzeitig gestärkt, weil der Staat sich kümmere.
  3. Und in den Polizei-Apparat hinein werde das motivierende Signal gesendet, die Politik habe den Ernst der Lage endlich erkannt.

Kreispolizeibehörden definierten 44 "gefährliche/verrufene Orte"

Wie ernst die Lage ist, war den Praktikern schon lange klar. Zwischen 2010 und 2017 hatten die Kreispolizeibehörden landesweit 44 „gefährliche/verrufene Orte“ definiert. Es handelt sich dabei um eine interne polizeiliche Klassifizierung, die zum Beispiel anlassunabhängige Identitätsfeststellungen möglich macht.

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Nicht jeder verrufene Ort ist gleich eine „No-Go-Area“, darauf weist das Innenministerium vorsorglich hin: „Es handelt sich nicht zwingend um Orte, die von der Bevölkerung als Angsträume wahrgenommen werden, wie es die Begrifflichkeit gegebenenfalls suggeriert“, erklärt ein Sprecher. Ganz von ungefähr kommt die Einschätzung dennoch nicht. So kann die Polizei gesetzlich Orte nur als „verrufen“ einstufen, wenn dort mutmaßlich Straftaten begangen oder vorbereitet werden.

Keine landesweit einheitlichen Kriterien für "verrufene Orte"

Da die Klassifizierung der Örtlichkeiten von der täglichen Lageeinschätzung der Polizei abhängig ist, gibt es keine dauerhafte Einstufung von bestimmten Gegenden als verrufen. Das Innenministerium führt keine Listen darüber und gibt keine landesweit verbindlichen Kriterien vor. Klar ist nur, dass in Dortmund der erweiterte City- und Nordstadtbereich immer wieder dazu gehört, der Viehofer Platz und die Altendorfer Straße in Essen, aber auch Wohnblocks in Marl und Bottrop sowie gleich ein Dutzend Örtlichkeiten in Köln.

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Verbindlicher ist das erste Lagebild zur Clan-Kriminalität, das Innenminister Reul im Mai vorstellt. Das Landeskriminalamt (LKA) hat in den vergangenen drei Jahren 104 Großfamilien identifiziert, denen in diesem Zeitraum 6449 Tatverdächtige und insgesamt 14.225 Straftaten zugeordnet werden konnten. Das Lagebild zeigt allein zehn besonders aktive Clans, die rund 30 Prozent der erfassten Straftaten begangen haben sollen.

Das Ruhrgebiet ist nach Erkenntnissen der Ermittler ein absoluter „Hotspot“ der Clan-Kriminalität. Die mit Abstand meisten Straftaten (2439) entfallen auf Essen, es folgen Gelsenkirchen (1096), Recklinghausen (1091), Duisburg (790), Bochum (782) und Dortmund (703). Über ein Drittel aller Clan-Straftaten sind sogenannte Rohheitsdelikte, also Nötigung, Raub oder gefährliche Körperverletzung.

Prinzip der Clans: "Die Ehre der Familie geht über alles"

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Thomas Jungbluth, erfahrener Abteilungsleiter beim LKA, benennt bei der Vorstellung des Lagebildes die ehernen Prinzipien der türkisch-arabischen Großfamilien: „Die Ehre der Familie geht über alles.“ Und: „Es gilt das Recht des Stärkeren.“ Sogenannte Ehrverletzungen lösten automatisch das Verlangen nach Wiedergutmachung aus. „Ein Verlassen des Clans ist kaum möglich“, so Jungbluth. Durch die Verheiratung der Familienmitglieder untereinander würden die innere Bindung des Clans gestärkt oder neue Allianzen eingegangen.

So klar hatte man das vorher noch nicht von staatlichen Stellen gehört. Im Umgang mit Angsträumen verfügen die Polizeibehörden inzwischen über einen deutlich besser bestückten Instrumentenkasten. Die Möglichkeit zur Videobeobachtung etwa wurde mit der schwarz-gelben Reform des Polizeigesetzes deutlich ausgeweitet.

Lange wurden in NRW nur die Altstädte in Düsseldorf und Mönchengladbach mit Kameras beobachtet. Unter dem Eindruck der massenhaften Übergriffe in der Kölner Silvesternacht 2015/16 hatte Rot-Grün eine erste Ausweitung der Videobeobachtung ermöglicht. Unter strengen Auflagen durften auch in Dortmund, Duisburg, Essen, Köln und Aachen probehalber Kameras an nachgewiesenen Kriminalitätsschwerpunkten aufgestellt werden.

Hürden für Videoüberwachung werden geringer

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CDU und FDP haben die Regelungen nun noch einmal so gelockert, dass die Polizei überall dort überwachen darf, wo sie Anhaltspunkte für Straftaten hat und schnell eingreifen könnte. Der Bedarf der Praktiker, die ihre „kriminogenen Orte“ schon lange kennen, ist groß. Das Polizeipräsidium Köln hat bereits vier weitere Orte zur Videobeobachtung ausgeguckt und zum Teil schon mit dem Aufbau begonnen. Das Polizeipräsidium Dortmund prüft aktuell die Erweiterung der Videobeobachtung auf zwei weitere Brennpunkte.

Es sind alles nur kleine Schritte. Doch Reul ist überzeugt, dass mit „Nadelstichen“ und „null Toleranz“ die Straße zurückerobert werden kann.

Dieser Text erschien zuerst in unserer digitalen Sonntagszeitung.

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