Dortmund. Die Gefahr durch den belgischen Atomreaktor Tihange beschäftigt NRW. In Dortmund gab es eine Bürgerversammlung. Fragen zum Schutz sind offen.
- NRW-Städte sind besorgt, denn den belgischen Atomreaktor Tihange durchziehen Tausende lange Risse
- Land NRW plant Job-Tabletten an Bürger auszugeben, die bei einem GAU Schilddrüsenkrebs vorbeugen sollen
- Behörden sind ebenso verunsichert, Pläne für Evakuierungen im Katastrophenfall gibt es nicht
Tschernobyl 1986. Fukushima 2011. Solche Namen und Ereignisse stecken in den Köpfen der 60 oder 70 meist etwas Älteren, die sich am Donnerstagabend in der 1. Etage des Dortmunder Rathauses treffen, Blick auf den Friedensplatz. Noch ein Begriff ist ihnen präsent: Tihange. Der belgische Atomreaktor arbeitet, in seinem Inneren von mittlerweile 3000 bis zu 17 Zentimeter langen Rissen durchzogen, nahe der deutschen Grenze. Mit Strom macht er eine Million Euro Gewinn. Am Tag.
Auch Ruhrgebiet wäre bei Katastrophe betroffen
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Von Tihange bis Dortmund sind es 187 Kilometer, bis Duisburg 140. Die neue Debatte über die Sicherheit der Kernkraft, bisher begrenzt auf die Region um Aachen, erreicht gerade das Revier. „Es kommt auf die Windrichtung an“, sagt der Arzt Wilfried Duisberg aus Aachen, „auch das Ruhrgebiet wird bei einem Unfall vom Fallout betroffen sein“.
Der Dortmunder Experte Jürgen Huesmann nennt eine zweite Gefahrenquelle im Norden. Das ist der deutsche Reaktor Lingen II im Emsland. Er ist 33 Jahre alt und liegt sogar ein wenig näher.
NRW-Städte wollen gegen Betrieb von Tihange klagen
„Atomunfall – sind wir in Dortmund geschützt?“. So steht es auf der Einladung. Veranstalter ist die IPPNW, vereinfacht bekannt unter dem Begriff „Ärzte gegen den Atomtod“. Die Stadt Dortmund ist mit Frank Renken vertreten, dem Chef des Gesundheitsamtes. Oliver Nestler von der städtischen Feuerwehr, die ja notfalls für den Schutz sorgen muss, durfte am Ende doch nicht kommen, sagt Huesmann vom lokalen IPPNW: „Die Dezernentin hat das gestoppt“. Auffallend: Auch keiner der eingeladenen Parteivertreter ist der Einladung gefolgt. Trotz Wahlkampf.
Dabei ist wahr: Das Thema liegt seit mehr als einem Jahr ganz oben auf den Schreibtischen der Kommunen im Nordrhein-Westfalen. Die Berichte über den unsicheren Zustand von Tihange haben die Behörden aufgeschreckt. NRW-Städte wollen gemeinsam gegen den Weiterbetrieb des belgischen Kraftwerks klagen. Auch sind, nach Fukushima, die Risikozonen ausgeweitet worden, so dass Teile des Ruhrgebiets jetzt mit Vorsorgemaßnahmen erfasst werden.
Viele NRW-Städte schaffen Vorrat an Jodtabletten an
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Das Land NRW hat bereits bis zu 30 Millionen Jod-Tabletten besorgt. Rathäuser sind dabei, massenweise noch zusätzliche Not-Ressourcen für den Fall einer radioaktiven Freisetzung des Kraftwerks bei Lüttich zu kaufen. 114.000 sollen es in Duisburg sein, Essen denkt an 450.000, Gelsenkirchen plant mit 330.000. Droht die „Tschernobyl-Wolke“, dieses Mal käme sie aus Südwest, sollen Kinder und Jugendliche und Schwangere mit den äußerst hoch dosierten Substanzen versorgt werden, um bei ihnen einen Ausbruch von Schilddrüsenkrebs zu verhindern. Wer älter als 45 ist, sollte auf die Einnahme verzichten. Hier kann das Mittel kontraproduktiv wirken.
Droht die „Tschernobyl-Wolke“, dieses Mal käme sie aus Südwest, sollen Kinder und Jugendliche und Schwangere mit den äußerst hoch dosierten Substanzen versorgt werden, um bei ihnen einen Ausbruch von Schilddrüsenkrebs zu verhindern. Wer älter als 45 ist, sollte auf die Einnahme verzichten. Hier kann das Mittel kontraproduktiv wirken.
Unklare Bedrohungslage verunsichert auch Behörden
Das Publikum im Dortmunder Rathaus hat viele Fragen. Die Antworten sind verhalten. Die Behörden selbst sind verunsichert. Umfang der Bedrohung und Zahlen sind so unklar wie die Methode der Jod-Verteilung an die Bevölkerung im Fall des Falles. Pläne für eine Evakuierung? Gibt es nicht. Das sind zentrale Erkenntnisse dieses Abends.
In Dortmund hat die Stadt eben den Vorschlag der eigenen Feuerwehr gekippt, Jod vorbeugend zu verteilen. Vielleicht werden die Rationen dezentral gelagert. Was aber, wie die angereisten Aachener IPPNW-Experten durchscheinen lassen, einer anderen Atomunfall-Empfehlung diametral widerspricht: Dass die Menschen jeden Gang ins Freie meiden und sich zu Hause verbarrikadieren sollen, bis die Radioaktivität nach sieben oder zehn Tagen nachlässt.
Katastrophe von Tschernobyl ist Gesprächsthema
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Die Gefahren der Kernenergie haben nicht nur eine fachliche, sondern eine emotionale Seite. Auch sie wird in Dortmund erzählt. Ein weißrussischer Chirurg tut das, bestimmt über siebzig. Er erzählt, wie er vor 30 Jahren in die verstrahlte Zone von Tschernobyl abkommandiert wurde, um den dort verbliebenen Menschen zu helfen.
Auch seine Ehefrau ist Internistin, alle Ärzte sollten zum Zwangseinsatz. Aber wer, fragten sie sich damals, zieht die beiden kleinen Kinder groß, wenn gleich beide Eltern todkrank zurückkommen sollten? Sie haben eine Familienentscheidung gefällt: Nur einer geht, macht dafür zwei Einsätze. Es ist gut gegangen.