Bonn. Tausende Sirenen wurden nach dem Kalten Krieg abgebaut. Wer warnt die Deutschen bei einer Katastrophe? Immer mehr haben eine App dafür.
Das Geheul war laut, es ging bis ins Mark. Ein Dauerton, der anschwoll und wieder abebbte, oft minutenlang. Früher, in Zeiten des Kalten Krieges, gab es die Sirenen in jedem Dorf. In regelmäßigen Abständen kamen sie zum Einsatz. Sonnabends 12 Uhr war so ein klassischer Zeitpunkt, um den Probealarm zu starten und die Warnung vor dem Kriegsfall zu simulieren. 86.000 Sirenenpilze gab es einmal auf deutschen Dächern, zumeist installiert auf öffentlichen Gebäuden.
Das Geheul ist heute aus vielen Regionen des Landes verschwunden. Die Kommunen verfügen nur noch über 32.000 Sirenen, weiß Christoph Unger zu berichten. Der Präsident des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe ist darüber besorgt. Nicht nur, weil seine Bonner Behörde für die Warnung der Bevölkerung im Verteidigungsfall zuständig ist. Sondern auch, weil die Deutschen nach Ungers Meinung auf ein echtes Krisenszenario nicht mehr so gut vorbereitet sind, wie sie es noch vor dem Mauerfall waren. Rückblickend sagt Unger: „Wir glaubten, dass der dauerhafte Friede in Europa eingetreten ist.“
Bundesamt will mehr „Taschensirenen“
So waren die Sirenen in den 90er-Jahren scheinbar sinnlos geworden. Und weil sie auch teuer im Unterhalt waren, wurden sie in großem Stil abgebaut. Nur in einigen Regionen der Republik blieben sie und mit ihnen die Probealarme: Dort, wo Atomkraftwerke in der Nähe stehen; oder entlang der Elbe, in Dresden und Hamburg etwa, falls Hochwasser droht; auch in der Nähe großer Betriebe, von denen Havarien ausgehen können.
Nun ist es nicht so, dass derzeit ein Krieg in Westeuropa denkbar wäre. Doch die sorglosen Zeiten sind vorbei. Es beginnt ein weltweiter Rüstungswettlauf, der Ost-West-Konflikt ist zurück, ein Drittel der Deutschen fürchten laut einer Umfrage einen Krieg mit Russland. Während Deutschland wieder mehr in seine Verteidigung investiert, hinkt der Schutz der Zivilbevölkerung hinterher. Die fehlenden Sirenen machen es deutlich.
Wie also werden die Deutschen heute gewarnt, falls es ernst wird? Wenn etwa ein Terroranschlag die Infrastruktur des Landes zerstört, wenn sich eine Industriekatastrophe oder eine lebensgefährliche Pandemie ausbreitet? Ein umfassendes Warnsystem gibt es für diesen Fall nicht mehr. Einige Städte und Gemeinden kehren daher zurück zur alten Technik. „Jetzt beobachten wir, dass Kommunen in der ganzen Bundesrepublik zunehmend wieder Sirenen als zusätzliches Warnmittel aufbauen“, berichtet BBK-Präsident Unger. Eine andere Technik ist ihm inzwischen wichtiger: die „Taschensirene“, wie er die kostenlosen Warn-Apps für Smartphones nennt.
2,5 Millionen Deutsche haben „Katwarn“ installiert
Bisher haben sich drei Anbieter solcher Notfall-Applikationen etabliert. Das vor fünf Jahren gestartete Warnsystem „Katwarn“ vom Fraunhofer-Institut für Offene Kommunikationssysteme in Berlin wird bislang von rund 2,5 Millionen Deutschen genutzt, Tendenz steigend. Die App ermöglicht Katastrophenschutzbehörden, Feuerwehrleitstellen oder dem Deutschen Wetterdienst, ihre Warnmeldungen direkt und örtlich begrenzt auf die Smartphones zu senden.
Bundesweit bekannt wurde „Katwarn“, als die Münchner Bevölkerung am Abend des Amoklaufs im vergangenen Juli über die App auf dem Laufenden gehalten wurde. In diesen Stunden nutzten etwa 250.000 Menschen das System. Der Server stieß allerdings an seine Grenzen, weil der Dienst parallel über Unwetter in Rheinland-Pfalz, Hessen und Baden-Württemberg informierte. Die Serverkapazitäten wurden danach mehr als verdoppelt.
Auch das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe betreibt eine Warn-App, die „Nina“ heißt, seit Sommer 2015 auf dem Markt ist und laut Behördenchef Unger derzeit rund 1,5 Millionen Nutzer aufweist. „Jeden Monat kommen Zehntausende hinzu“, sagt er. Die dritte App heißt „Biwapp“, betrieben von der Lüneburger Agentur „Marktplatz“, mit laut eigenen Angaben knapp 100.000 Nutzern in zwei Dutzend Landkreisen. Die seit Herbst 2015 angebotene App will nicht nur warnen, sondern auch lokal begrenzt über Straßensperrungen, Suchmeldungen der Polizei oder über Schulausfälle informieren.
Jeder Landkreis entscheidet selber über die Apps
Alle drei Anbieter buhlen vor allem um Landkreise und kreisfreie Städte als Kunden, denn Katastrophenschutz ist Sache der Kommunen. Jeder Kreis entscheidet damit für sich selbst, ob er die Dienste einer Warn-App in Anspruch nehmen will – und wenn ja, welche App er für die richtige hält. Der Bund kommt erst ins Spiel, wenn nationale Gefahren drohen. Föderalismus eben.
BBK-Chef Unger geht es nun darum, dass so viele Menschen wie möglich die „Taschensirene“ nutzen: „Wir wollen, dass nationale Warnungen auf allen Warn-Apps automatisch ausgespielt werden – ganz gleich, wie die Warn-App heißt.“ Ein erster Schritt soll eine Kooperation sein, die in wenigen Wochen offiziell wird. Dann erhalten auch „Biwapp“-Nutzer die „Nina“-Warnungen. Bald stehen auch Gespräche zwischen den „Nina“- und „Katwarn“-Machern an.
Eine Lösung über Brandmelder wäre technisch möglich
Auch die Apps ändern vorerst nichts an dem Befund, dass momentan weite Teile der Bevölkerung – gerade ältere Generationen – einen möglichen Kriegs- oder Katastrophenfall glatt verschlafen könnten. Wie also erreicht man diejenigen, die kein Smartphone und keine Sirene in der Nähe haben und gerade nicht das Radio oder den Fernseher laufen haben? Über diesen blinden Fleck in der Warn-Infrastruktur macht sich das BBK seit Jahren so seine Gedanken. Multi-Kanal-Warnung heißt das Ziel.
Eine Lösung könnte die in fast allen Bundesländern geltende Rauchmelder-Pflicht sein. Im BBK heißt es: Technisch sei es kein Problem, die Melder so auszurüsten, dass sie neben der Rauchwarnung auch auf Katastrophenwarnungen mit Alarmtönen reagieren. Aber die Hersteller müssten noch überzeugt werden. Solange hoffen die amtlichen Bevölkerungsschützer des Bundes, dass immer mehr Kommunen zurückkehren zur guten alten Sirene.