Brüssel. Die Deutschen bewegen sich in den EU-Gremien deutlich defensiver als andere Nationen, klagt der scheidende EU-Kommissar Günter Verheugen. Deshalb sollte der nächste Kommissionspräsident aus Deutschland kommen.

Herr Verheugen, ist Deutschland in den Brüsseler Chef-Etagen immer noch unterrepräsentiert?

Verheugen: Deutschland ist seit vielen Jahren bei politischen Führungsposten abstinent. Auf oberster Ebene hat es nur den ersten Kommissionspräsidenten Walter Hallstein und später den Nato-Generalsekretär Manfred Wörner gegeben. Das ist auf Dauer nicht gut für Deutschland und Europa. Auch die Vertretung in der Beamtenschaft entspricht noch nicht dem Gewicht des Landes.

Ist das eine Frage des nationalen Nachschubs?

Das System ist nicht Abordnung auf Zeit. Hier sind andere Mitgliedsstaaten viel besser. Außerdem sollte man in Berlin jüngeren Beamten bei der Vorbereitung auf eine Bewerbung helfen und dabei die interessanten Sachbereiche im Auge behalten. Im Übrigen ist etwas daran, dass Deutsche eher als andere dazu neigen zu vergessen, wo sie herkommen. Das fängt bei der Sprache an. Deswegen ist Deutsch als Arbeitssprache in der Kommission so gut wie tot.

Besonders gute Europäer - ist das nicht ein Pfund, mit dem die Deutschen wuchern konnten?

Man kann nur dann ein guter Europäer sein, wenn man seine eigenen Wurzeln und seine Herkunft nicht vergisst. Im Idealfall sind deutsche und europäische Interessen identisch. Ich finde nicht, dass man in einer internationalen Behörde verpflichtet ist, alle Brücken hinter sich abzureißen. Ganz im Gegenteil: Eine internationale Behörde ist auf Menschen angewiesen, die die spezifischen Probleme und Bedürfnisse ihres Heimatlandes kennen. Daher das Prinzip: aus jedem EU-Land ein EU-Kommissar.

Die anderen Nationen sind uns da über?

Es ist geradezu faszinierend zu sehen, wie bei bestimmten Anlässen Menschen zu wandelnden Nationalflaggen werden können. Das erlebe ich bei jeder Fußballmeisterschaft...

... englischer Union Jack und französische Trikolore?

...nicht zu vergessen die polnische Flagge, aber nicht nur die. Es ist völlig eindeutig, dass der Zusammenhalt der Beamten aus den meisten anderen EU-Ländern größer ist als unter den deutschen und dass sie stärker vernetzt sind. Gemeinsame Mittagessen sind selbstverständlich. Ich war geschockt, als ich zu Anfang feststellte: Die deutschen Direktoren kannten sich zum Teil nicht einmal. Das ist jetzt anders.

Welcher Zuständigkeitsbereich wäre denn für den künftigen deutschen EU-Kommissar interessant?

Man kann es dem Kommissionspräsidenten nicht vorschreiben, aber man kann Leute anbieten, die sich aufdrängen für eine bestimmte Aufgabe. Mein Rat wäre, den deutschen EU-Kommissar anzusiedeln in einem Kernbereich der Gemeinschaft.

Dem Wettbewerb?

Nein, für mich ist das außerhalb jeder Diskussion. Ein Deutscher würde permanent unter Verdacht stehen, entweder deutsche Firmen besonders hart zu behandeln oder ein Auge zuzudrücken.

Ein deutscher Anspruch auf die Führungsposition in der EU-Kommission wäre jedenfalls angemessen?

Ja, die Zeit wäre reif für einen deutschen Kommissionspräsidenten, aber nicht mehr in diesem Jahr. Das ist entschieden.