Essen. . Eine neue Risikostudie simuliert einen Atomunfall in belgischem Reaktor Tihange. Ergebnis: Im schlimmsten Fall müsste der Raum Aachen evakuiert werden.
Die Pannen an den Reaktoren des belgischen Atomkraftwerks Tihange in den letzten Jahren lassen sich kaum noch aufzählen. Zuletzt sorgte ein ernster Zwischenfall Anfang Oktober für Aufregung, diesmal gab es ein Problem im Kühlkreislauf von Reaktor 3. Wie stets gab die belgische Atomaufsichtsbehörde FANC bekannt: Radioaktivität ist nicht ausgetreten, es besteht keine Gefahr für die Bevölkerung.
70 Kilometer westlich der Grenze
Doch diese wiederkehrenden Auskünfte können die Bevölkerung in der Region kaum beruhigen, liegt der Pannenreaktor doch nur 70 Kilometer westlich der deutschen Grenze. Das Land NRW fordert seit Jahren die Abschaltung der über 40 Jahre alten Atomanlage, mittlerweile klagen knapp 100 Kommunen in der Dreiländer-Region sowie das Land NRW gegen den Betrieb von Tihange. Eine neue Risikostudie dürfte die Sorgen nun weiter befeuern.
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Die Städteregion Aachen hatte das Institut für Sicherheits- und Risikowissenschaften der Uni Wien beauftragt, die möglichen Auswirkungen eines Versagens des Reaktordruckbehälters im Kraftwerk Tihange zu analysieren. Dazu muss man wissen, dass bereits 2012 Tausende feiner Risse in dem 20 Zentimeter dicken Betonmantel festgestellt wurden.
Studie schildert drei Szenarien
Dennoch ging der Meiler nach einer knapp zweijährigen Zwangspause wieder ans Netz. Sollte der Druckbehälter bersten, wäre ein Atomunfall in der Tschernobyl- oder Fukushima-Kategorie kaum zu vermeiden, erklärten die Experten für Reaktorsicherheit Wolfgang Renneberg und Nikolaus Müllner gestern bei der Präsentation ihrer Studie in Aachen.
Für die Simulation der Auswirkungen eines GAUs werteten die Wissenschaftler Tausende Daten aus: Wetterlagen, Windrichtungen, Lebensdauer und Gefährlichkeit radioaktiver Nuklide, möglicher Fallout (radioaktiver Niederschlag).
Das Ergebnis sind drei mögliche Szenarien:
- Im besten Fall werde sich die radioaktive Belastung der Region bis weit nach NRW hinein „nur“ verdreifachen und zwar von einem Millisievert – das ist der Grenzwert für den Normalbetrieb eines Atomkraftwerks pro Jahr – auf drei Millisievert. Dies tritt bei einem GAU mit einer Wahrscheinlichkeit von 30 Prozent ein.
- Bei einer ungünstigeren Wetterlage, etwa bei Westwind, wäre eine Belastung von 25 Millisievert möglich, sagte Renneberg dieser Zeitung. „Das ist das 25-fache der jährlichen Strahlenbelastung eines Menschen. Das ist der Wert, ab dem es in Tschernobyl zu Umsiedlungen der Bevölkerung kam.“ Man spreche auch von einem „Evakuierungsgrenzwert“, erklärte der Physiker. Dies werde mit einer zehn-prozentigen Wahrscheinlichkeit eintreten.
- Bei extrem ungünstigsten Bedingungen, etwa wenn die radioaktive Wolke genau über den Großraum Aachen in Richtung Westen ziehe, würden die radioaktiven Werte in solche Höhen schießen, dass eine sofortige Evakuierung des Gebiets nötig wäre. „Die Region wäre bis auf weiteres unbewohnbar“, erklärte Renneberg, der bis 2009 die Abteilung Reaktorsicherheit am Bundesumweltministerium leitete.
Risse im Druckbehälter
Den Weiterbetrieb der Reaktoren hält Renneberg für unverantwortlich. „Bis auf die Hälfte seiner Dicke ist ein Reaktordruckbehälter mit Rissen durchzogen. Das ist ein Sicherheitsrisiko, das man nicht dulden kann.“ Die Studie bewerte allerdings nur die Folgen, nicht die Wahrscheinlichkeit, dass der Druckbehälter versagt.
„Wir haben jetzt den seriösen Nachweis, dass unsere Region mit hoher Wahrscheinlichkeit von radioaktivem Niederschlag betroffen wäre“, sagte der Aachener Städteregionsrat Helmut Etschenberg. Der Weiterbetrieb der Reaktoren sei daher „nicht hinnehmbar“. Mit den Daten der Studie werde die Städteregion eine zweite Klage gegen den Betrieb der Anlage vor einem belgischen Zivilgericht einreichen.
Zweite Klage gegen den Betrieb
Ein Atomunfall in Tihange würde mit hoher Wahrscheinlichkeit auch weite Teile Nordrhein-Westfalens bis hin zum Ruhrgebiet betreffen, befürchtet das NRW-Umweltministerium. „Hier wird ganz bewusst die Gewinnmaximierung über das Vorsorgeprinzip für Millionen Menschen gestellt. Solche Reaktoren gehören abgeschaltet“, sagte Remmel dieser Zeitung. Die Studie könnte dieser Forderung nun Nachdruck verleihen.