Essen. NRW-Kommunen fordern Abschaltung von belgischen Atomkraftwerken. Innenminister Ralf Jäger lehnt vorsogliche Verteilung von Jodtabletten ab.

Das Misstrauen gegenüber den belgischen Atomkraftwerken und den zuständigen Aufsichtsbehörden wird immer massiver. Erst Mitte der Woche hatte Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD) die belgische Regierung aufgefordert, die beiden alten Atommeiler Tihange und Doel wegen gravierender Sicherheitsbedenken vorläufig abzuschalten. Damit würde Belgien auch ein Zeichen setzen, dass es „die Sorgen seiner deutschen Nachbarn ernst nimmt“, so Hendricks.

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Die Antwort aus Brüssel kam prompt. Noch am selben Tag wies die belgische Atomaufsicht FANC das Ansinnen brüsk und nach eigenen Worten „überrascht“ zurück. Die Anlagen erfüllten internationale Sicherheitsstandards, es bestehe keine Notwendigkeit, die Meiler herunterzufahren.

Nur einen Tag später erfüllte der Reaktor Doel 3 bei Antwerpen der deutschen Ministerin quasi von selbst den Wunsch und schaltete sich am Donnerstag automatisch ab. Ein Computerproblem bei einem Turbinentest habe den Stopp ausgelöst, hieß es später.

Massive Kritik am Atomkurs

Die Kritik an der belgischen Haltung wird angesichts der anhaltenden Pannenserie der Reaktoren, die bereits seit 1975 am Netz sind, von Woche zu Woche größer. Nach Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen und der Bundesregierung macht auch Luxemburg Front gegen die Brüsseler Atompolitik. Im Bundestag forderten gestern Grüne und Linke bei einer Debatte anlässlich des 30. Jahrestags der Tschernobyl-Katastrophe die sofortige Abschaltung belgischer und französischer Risiko-Reaktoren.

Die Städteregion Aachen hat bereits im Februar Klage gegen den Betrieb des Kraftwerks Tihange eingereicht, das nur 70 Kilometer vor den Toren der Grenzstadt liegt. Dieser Klage will sich auch das Land NRW anschließen, das seit langem das Aus für die kritischen Reaktoren fordert. Im Falle eines schweren Atomunfalls wären vermutlich auch weite Teile NRWs betroffen. Parallel bereitet eine Allianz von mehr als 60 Kommunen im Dreiländereck eine Beschwerde beim zuständigen EU-Energiekommissar vor. Ungeachtet dessen hält Belgien am Atomkurs fest.

Belgien verteilt Jodtabletten

Auch das Vertrauen in die belgische Atomaufsichtsbehörde FANC schwindet offenkundig. Eine Untersuchung durch Unternehmensprüfer brachte „ein vergiftetes Betriebsklima“, „einen Mangel an Führungskraft“ und interne „Machtkämpfe“ an Licht. Der gravierendste Punkt in dem 70-seitigen Gutachten: Es fehle an der nötigen Unabhängigkeit des Amtes gegenüber Politik und Wirtschaft.

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Neue Befürchtungen in der Bevölkerung weckt die Ankündigung des belgischen Gesundheitsministeriums, im kommenden Jahr an alle Bürger im 100 Kilometer-Umkreis um die Kraftwerke vorsorglich Jodtabletten zu verteilen. In diesem Radius liegen auch zahlreiche deutsche Kommunen, weshalb man sich in Aachen schon ironisch fragt, ob die radioaktive Strahlung wohl an der Grenze Halt macht.

NRW-Innenminister gibt keine Erlaubnis

Im Ernst aber sieht man sich in den Sorgen bestätigt. Rechnet Belgien insgeheim mit dem GAU? „Offensichtlich gibt es nun auch auf belgischer Seite erhebliche Vorbehalte, was die Sicherheit der Kraftwerksblöcke betrifft“, sagte Städteregionsrat Helmut Etschenberg. Er will NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD) bitten, ebenfalls die bereits in Feuerwehr-Gerätehäusern der Kommunen eingelagerten Tabletten verteilen zu dürfen. Da sie dem Land gehören, muss der Minister zustimmen.

Jäger aber verweigert die Erlaubnis. Im Ernstfall wüssten die Menschen womöglich nicht mehr, wo sie die Tabletten gelagert hätten. Zudem müsse das Mittel im Notfall zu einem exakten Zeitpunkt eingenommen werden, zu früh geschluckte Pillen wären unwirksam. Drohe radioaktive Strahlung, würden die Tabletten sofort an die Haushalte verteilt. „Die Landesregierung nimmt die berechtigten Sorgen der Menschen ernst“, versichert Jäger. Schon nächste Woche werde er mit den Verantwortlichen der grenznahen Kommunen „das gemeinsame Vorgehen im Ernstfall abstimmen“.