Essen. . In NRW ist die Debatte um G8 oder G9 neu entbrannt. „Das Abitur sollte wieder zum Reifezeugnis werden“, fordert WAZ-Chefredakteur Andreas Tyrock.

Eigentlich sollte das Thema Turbo-Abitur längst erledigt sein. Mit der Zeit würden sich Schüler, Lehrer und Eltern schon daran gewöhnen. Sie würden sich anpassen und irgendwann Ruhe geben. So das Kalkül von NRW-Schulministerin Sylvia Löhrmann und der rot-grünen Landesregierung. Deshalb blieb das G8-Konzept seit Beginn der Regierungsübernahme 2010 in seiner Grundstruktur unangetastet.

Doch diese Politik des Aussitzens wird nun bitter bestraft. Acht Monate vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen rollt die G8/G9-Diskussion als riesige Welle auf Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) und Ministerin Löhrmann (Grüne) zu. Letztere reagiert hilflos, ja panisch auf den Druck aus Schulen, Gewerkschaften, Lehrer- und Elternverbänden. Ihre Idee der flexiblen Schulzeit für jedes einzelne Kind kam unerwartet, unvorbereitet, unabgestimmt, fern jeder Realität. Die Reaktionen reichten von Kopfschütteln bis Empörung über so viel Praxisferne.

Turbo-Abitur hat sich bundesweit nicht durchsetzen können

Doch auch die Sozialdemokraten in NRW haben sich von ihrer starren Haltung verabschiedet, zumal sich das Turbo-Abitur bundesweit nicht durchgesetzt hat. Wenn selbst die Bayern beim G8 zurückrudern und sich auch die FDP als frühere glühende Verfechterin des Turbo-Abis korrigiert, dann muss auch in NRW etwas geschehen. Der SPD-Leitantrag für den kommenden Parteitag sieht eine Rückkehr zur sechsjährigen Sekundarstufe I und, je nach Leistungsvermögen, eine flexible Oberstufe vor. Lediglich die NRW-CDU und ihr Spitzenkandidat Armin Laschet haben sich noch nicht positioniert. Konkreten Fragen wich er auch in einem Rundfunk-Interview aus. Lange dürfte er das nicht durchhalten.

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Denn alles deutet darauf hin, dass das Turbo-Abitur zu einem zentralen Wahlkampfthema wird. Wie konnte das geschehen? Schließlich liegt die Entscheidung für das G8-Abitur schon mehr als ein Jahrzehnt zurück. Und, Ironie der Geschichte, in NRW war es die schwarz-gelbe Landesregierung unter Ministerpräsident Jürgen Rüttgers, die in ihrer kurzen Amtszeit das Turbo-Abi ins Werk setzte. SPD und Grüne, denen das Thema heute auf die Füße fällt, verfolgten damals eigentlich ein behutsameres Modell der Schulzeitverkürzung.

Bundesländer sind dem Druck und dem Zeitgeist gefolgt

Ein Rückblick: Die Jahrtausendwende steht im Zeichen des digitalen Umbruchs und der Globalisierung. Die Märkte funktionieren nicht mehr nur national oder europäisch, sondern weltweit. Den globalen Wissenstransfer gab es ebenso wie den weltweiten Güterverkehr zwar schon lange, aber Umfang und Tempo nehmen rasant zu. Und damit die weltweite Konkurrenz. Der Wettbewerb um Ideen, der Kampf um Märkte und Köpfe wird propagiert. Junge Menschen sollen schnell in Ausbildung oder Studium, um ebenso schnell in den Beruf einzusteigen. Die Wirtschaft ruft nach Nachwuchs, sonst sei die Konkurrenzfähigkeit in Gefahr. In anderen Staaten, insbesondere in Asien, sei man schneller und effizienter in der Nachwuchsbeschaffung. Die Wortwahl ist natürlich eine andere. Doch im Ergebnis folgen nahezu alle Bundesländer dem Druck und dem Zeitgeist. Jung, klug, ehrgeizig, effizient, konkurrenzfähig: So hat die Jugend zu sein. Das Abitur nach zwölf Jahren ist die Folge. Zugleich versprechen Länderchefs und Kultusminister eine Entschlackung der Lehrpläne. Alles werde schlank aufgestellt, nichts soll den schnellen Lauf durch die Oberstufe behindern. Und am Ende werde die Gesellschaft profitieren. Soweit die Theorie.

Doch das Leben sieht vielerorts anders aus. Es hält sich nicht an die Vorgaben aus Unternehmen und Ministerien. Die Lehrpläne bleiben aufgebläht, Lehrer und Schüler ächzen unter der Last des Termin- und Leistungsdrucks, Familien leiden unter fehlender gemeinsamer Zeit. Und eine andere Erkenntnis setzt sich zunehmend durch: Die gesunde Entwicklung junger Menschen hängt nicht allein von der effizienten Aufnahme von Zahlen, Daten und Fakten ab. Die reine Wissensvermittlung reicht nicht, um eine Gesellschaft weiter zu entwickeln. Es geht auch um das Miteinander, den Austausch gerade junger Menschen; in der Jugendfeuerwehr, beim Sport, in Sozialverbänden, in Musikschulen. Wer keine Zeit mehr zum Bolzen hat, wer sich nicht mehr zum Spielen trifft, wer es nicht mehr schafft, ein Musikinstrument zu erlernen, obwohl es ein Wunsch ist, wer als Kind oder Jugendlicher keine Zeit mehr zum Leben hat, dem fehlt etwas im Reifeprozess. Das alles mag für diejenigen Schülerinnen und Schüler nicht gelten, die sehr gut in der Schule sind. Doch was ist mit all den anderen? Etwa denen, die durchschnittlich sind? Die „normal“ sind?

Turbo-Abitur ist pädagogischer und gesellschaftspolitischer Unsinn

Am Ende steht das Reifezeugnis. Reif mit 17 Jahren. Die Abiturientin oder der Abiturient wird ins Leben entlassen. Zum Beispiel ins Freiwillige Soziale Jahr oder ins Ausland. Das alles hängt natürlich davon ab, was man als Jugendlicher überhaupt darf – ohne volljährig zu sein. Man dreht dann ein paar Schleifen und braucht für manche Unternehmung die Unterschrift von Mama und Papa. Vielleicht engagiert man sich ja auch in einem Projekt, um soziale Kontakte zu bekommen, die man während der Schulzeit nicht mehr hatte. Und spätestens dann bestätigt sich, was man schon während der gesamten Schulzeit wusste: Das Turbo-Abitur ist pädagogischer und gesellschaftspolitischer Unsinn. Und diese Erfahrungen macht ein Schuljahrgang nach dem anderen, samt Lehrern, Eltern und Großeltern. Deshalb kommt auch nach so vielen Jahren keine Ruhe in das Thema. Und deshalb wird das Turbo-Abitur ein wichtiges Wahlkampfthema.

Am Ende werden flexiblere Lösungen stehen. Etwa die Selbstbestimmung von Schulen, jeweils G8 oder G9 anzubieten und den Schülern die entsprechende Wahlmöglichkeit zu lassen. Denn, auch das gehört zu Wahrheit, es gibt einige Schulen, in denen G8 funktioniert. Deshalb darf auch nicht das gesamte Schulsystem in Frage gestellt werden, wie es Ministerin Löhrmann in dieser Woche tat. So viel Berechenbarkeit wie möglich, so viel Flexibilität wie nötig, könnte der Leitsatz lauten. Und es dürfte sich die Erkenntnis durchsetzen, dass das Abitur mit 17 nicht die Lösung schlechthin ist. An einigen Universitäten gibt es mittlerweile sogar Elternabende, weil viele Studenten so jung sind. Kurzum: Das Abitur sollte wieder zum Reifezeugnis werden.