Essen. . Verschiedene Lernzeiten bis zum Abitur ließen sich ohne einen Umbau des Systems nicht verwirklichen. Das sagt Erziehungswissenschaftler Klaus Klemm.

Auch Wissenschaftler rätseln, worauf der überraschende Vorstoß von Bildungsministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) hinauslaufen könnte. Vor allem an der praktischen Umsetzbarkeit einer flexiblen und individuell gestalteten Schulzeit zweifeln die Professoren. „Ich verstehe den Vorschlag nicht“, räumt der renommierte Essener Erziehungswissenschaftler Klaus Klemm ein. „Wie soll die individuelle Lernzeit in den Schulen organisiert werden?“ Neue Räume wären nötig, mehr Personal und Geld. Eine flexible Oberstufe, die je nach Leistungsniveau in zwei oder drei Jahren durchlaufen werden kann, sei hingegen sinnvoll. Dieser Vorschlag liege schon lange auf dem Tisch und sei auch umsetzbar. Grundsätzlich ist Klemm der Ansicht, dass man den Schulen in Zeiten von Inklusion und Integration von Flüchtlingskindern eine grundlegende und langwierige Umstrukturierung ersparen sollte.

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Von Matthias Korfmann und Christopher Onkelbach

Die Idee, dass jeder Schüler nach seinem eigenen Tempo seine Lernziele erreicht, sei pädagogisch nicht falsch, findet Marten Clausen, Erziehungswissenschaftler an der Uni Duisburg-Essen. Aber auch er sieht Probleme bei der Umsetzung. Um individuelle Lernzeiten zu ermöglichen, müssten die Klassenverbände aufgelöst werden, die Schüler müssten weitgehend selbstständig ihre Ziele erreichen. „Gute Schüler können damit umgehen, für schwächere wird es problematisch. Sie brauchen eher eine feste Struktur etwa bei Abläufen, Klassenverbänden und Lehrern.“ Ein von der ersten Klasse bis zum Abitur individuell gefördertes Kind könne das Schulsystem, so wie es heute ist, sicher nicht leisten.

Eine Schule für alle

Bildungsforscherin Heike Solga findet den Ansatz unterschiedlicher Lerntempi pädagogisch richtig. Solga forscht am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin (WZB) und beobachtet die aktuellen Schuldebatten in den Bundesländern. „Für die Umsetzung wären jahrgangsübergreifende Klassen von der Grundschule bis zur Oberstufe notwendig. Man braucht dafür kleinere Lerngruppen, mehr Lehrer, eine andere Pädagogik sowie zusätzliche Räumlichkeiten. Wie will man das hinkriegen?“ Letztlich liefe Löhrmanns Idee auf eine Schule für alle hinaus. Und damit habe die Ministerin eine neue Strukturdebatte vom Zaun gebrochen – was sie doch eigentlich vermeiden wollte.