Düsseldorf. NRW-Schulministerin Löhrmann irritiert mit ihrer Idee, jedem Kind eine individuelle Schulzeit anzubieten. Lehrer, Eltern und Experten sind skeptisch.

„Warum macht Sylvia Löhrmann das?“ Diese Frage bewegte am Tag nach dem überraschenden Vorstoß der grünen Ministerin Lehrerverbände, Elternorganisationen und die Parteien. Fast alle vermuten hinter dem Löhrmann-Vorschlag, jedem Kind eine individuelle Schulzeit anzubieten, einen kühl kalkulierten politischen Schachzug. Löhrmann wolle die Hoheit in der G8-Debatte zurückgewinnen, heißt es. Die SPD, die inzwischen mit einer flexiblen Gymnasialzeit („G8 Flexi“) liebäugelt, habe der Schulministerin zuletzt die Schau gestohlen.

Während alle anderen noch über G8 und G9 stritten, zog Löhrmann einen ganz anderen und weitergehenden Plan aus der Tasche: Der Ansatz, dass Schüler unterschiedlich schnell lernen, müsse nach der Grundschule auch auf die Sekundarstufen I und II übertragen werden. „Und zwar nicht nur am Gymnasium, sondern in allen Schulformen und für alle Schulabschlüsse.“ Wollen die Grüne da etwa den Weg für die Einheitsschule freimachen? Viele Beobachter vermuten dies.

Landeselternschaft entsetzt

Mit „Entsetzen“ reagierte Peter Silbernagel, Chef des Philologenverbandes, auf die grüne Initiative. Das habe den „Geruch des Populismus“. Silbernagel vermutet dahinter eine „Panikattacke“ der Ministerin. Löhrmann stoße damit alle, besonders aber die Teilnehmer des von ihr selbst einberufenen Runden Tisches zur Weiterentwicklung des Gymnasiums vor den Kopf.

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Von Tobias Blasius und Matthias Korfmann

Die Landeselternschaft der Gymnasien kritisierte Löhrmann am Donnerstag ebenfalls scharf. Die Ministerin solle sich lieber intensiv mit der Kritik an G8 beschäftigen und nicht die Schulstruktur in Gänze infrage stellen. „Der vorsichtige Schwenk der SPD weg von G8 hat uns gerade erst Mut gemacht. Und jetzt will Sylvia Löhrmann auf einmal etwas ganz anderes. Was soll das?“, ärgert sich Dieter Cohnen von der Landeselternschaft.

Die großen Pädagogenverbände GEW und VBE hielten sich hingegen mit Vorwürfen an die Adresse der Ministerin zurück. „Sylvia Löhrmanns Vorschlag ist eine Reaktion auf den Streit über G8. Ich finde es positiv, wenn Bewegung in diese Debatte kommt“, sagte Dorothea Schäfer, NRW-Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Aus Sicht der GEW muss es nun vor allem darum gehen, wieder die einheitliche und sechs Jahre dauernde Sekundarstufe I einzurichten. Flexible Durchlaufzeiten in der Oberstufe stehen schon lange auf der Wunschliste der GEW. In der Sekundarstufe I könne dies aber „problematisch“ sein, so Schäfer.

Ein taktisches Spiel der Ministerin?

„Löhrmann spielt ein taktisch kluges politisches Spiel“, sagte der Bundesvorsitzende des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE), Udo Beckmann. Der Schulministerin sei es gelungen, sich wieder ins Gespräch zu bringen. Löhrmann plant nach Einschätzung des VBE eine schulpolitische Revolution.

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„Der Vorschlag bedeutet letztendlich einen Umbau des Schulsystems in eine Schule für alle von Klasse eins bis zum Ende der Sekundarstufe II.“ Aus pädagogischer Sicht sei das durchaus „interessant“, findet Udo Beckmann. In der Praxis sei aber ein solcher Systemwechsel schwer zu verwirklichen. Das ginge nur mit kleineren Klassen, vielen zusätzlichen Lehrerstellen und neuen Raumkonzepten. „Wir kriegen ja nicht mal die aktuellen Probleme gestemmt“, gibt sich Beckmann skeptisch.

Wissenschaftler reagieren krtitisch

Auch Wissenschaftler rätseln, worauf der überraschende Vorstoß von Bildungsministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) hinauslaufen könnte. Vor allem an der praktischen Umsetzbarkeit einer flexiblen und individuell gestalteten Schulzeit zweifeln die Professoren. „Ich verstehe den Vorschlag nicht“, räumt der renommierte Essener Erziehungswissenschaftler Klaus Klemm ein. „Wie soll die individuelle Lernzeit in den Schulen organisiert werden?“

Neue Räume wären nötig, mehr Personal und Geld. Eine flexible Oberstufe, die je nach Leistungsniveau in zwei oder drei Jahren durchlaufen werden kann, sei hingegen sinnvoll. Dieser Vorschlag liege schon lange auf dem Tisch und sei auch umsetzbar. Grundsätzlich ist Klemm der Ansicht, dass man den Schulen in Zeiten von Inklusion und Integration von Flüchtlingskindern eine grundlegende und langwierige Umstrukturierung ersparen sollte.

Eine Schule für alle

Die Idee, dass jeder Schüler nach seinem eigenen Tempo seine Lernziele erreicht, sei pädagogisch nicht falsch, findet Marten Clausen, Erziehungswissenschaftler an der Uni Duisburg-Essen. Aber auch er sieht Probleme bei der Umsetzung. Um individuelle Lernzeiten zu ermöglichen, müssten die Klassenverbände aufgelöst werden, die Schüler müssten weitgehend selbstständig ihre Ziele erreichen.

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„Gute Schüler können damit umgehen, für schwächere wird es problematisch. Sie brauchen eher eine feste Struktur etwa bei Abläufen, Klassenverbänden und Lehrern“, meint Clausen. Ein von der ersten Klasse bis zum Abitur individuell gefördertes Kind könne das Schulsystem, so wie es heute ist, sicher nicht leisten.

Bildungsforscherin Heike Solga findet den Ansatz unterschiedlicher Lerntempi pädagogisch grundsätzlich richtig. Solga forscht am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin (WZB) und beobachtet die aktuellen Schuldebatten in den Bundesländern. „Für die Umsetzung wären aber jahrgangsübergreifende Klassen von der Grundschule bis zur Oberstufe notwendig. Man braucht dafür kleinere Lerngruppen, mehr Lehrer, eine andere Pädagogik sowie zusätzliche Räumlichkeiten. Wie will man das hinkriegen?“ Letztlich liefe Löhrmanns Idee auf eine Schule für alle hinaus. Und damit habe die Ministerin eine neue Strukturdebatte vom Zaun gebrochen – was sie doch eigentlich vermeiden wollte.