Essen. . Der Armutsbericht der Bertelsmann-Stiftung sorgt bundesweit für Aufsehen. Über 18 Prozent der Kinder in NRW leben in Hartz-IV-Familien.
Das Echo auf die Veröffentlichung der Kinderarmut-Studie ließ nicht lange auf sich warten. Der Sozialverband Deutschland (SoVD) nannte die Entwicklung am Montag „verhängnisvoll“, weil die Kinderarmut ausgerechnet in einem Staat wachse, der einer der wohlhabendsten der Welt sei. Wirtschaftsverbände sprachen von einem „sozialen Brandbeschleuniger“. Und die Linke-Bundestagsfraktion forderte, umgehend einen zweistelligen Milliardenbetrag zur Bekämpfung des Problems bereitzustellen.
Im Düsseldorfer Regierungsviertel geriet der Armutsbericht der Bertelsmann-Stiftung zur Steilvorlage für die Opposition. Das groß beworbene Modellprojekt „Kein Kind zurücklassen“ erweise sich immer mehr als Feigenblatt von Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD), kommentierte der familienpolitische Sprecher der FDP-Landtagsfraktion, Marcel Hafke, die aktuellen Zahlen zur Kinderarmut.
Gelsenkirchen bundesweit Platz 2
Vor Ort, also in den Städten, reagiert man deutlich weniger zugespitzt, wenn auch nicht weniger besorgt auf die Erkenntnisse des Kinderarmutsberichts, der kein Stimmungsbild wiedergibt, sondern harte Fakten präsentiert. Überrascht sei sie von den Ergebnissen nicht, sagte Dortmunds Sozialdezernentin Birgit Zoerner (SPD) dieser Redaktion. „Wir kennen die Daten ja.“ Es komme aber nicht darauf an, das Problem wiederholt zu benennen, sondern endlich die Wurzeln der Kinderarmut zu bekämpfen, meinte Zoerner.
Konkret forderte sie mehr Engagement des Bundes bei der Bekämpfung der hohen Langzeitarbeitslosigkeit in der Region. Berlin müsse endlich die 2012 erfolgte Halbierung der kommunalen Eingliederungsmittel für die Jobcenter wieder zurücknehmen, so Zoerner. Allein dem Dortmunder Jobcenter fehle dadurch ein zweistelliger Millionenbetrag.
Die gelegentlich zu hörende Annahme, die Armutszahlen könnten auch wegen betrügerischer Erschleichung von Hartz-IV-Leistungen gestiegen sein, wollte Zoerner indes nicht teilen. „Sozialmissbrauch findet in keiner relevanten Größenordnung statt und liegt seit Jahren unter vier Prozent der Fallzahlen“, betonte Zoerner. Auch Gelsenkirchens Oberbürgermeister Frank Baranowksi (SPD) reagierte auf den Bericht. „Unsere Städte müssen finanziell so ausgestattet werden, dass wir überall in der Republik gleichwertige Lebensverhältnisse erreichen“, forderte er. Mit einer Kinderarmutsquote von 38,5 Prozent belegt die Stadt einen traurigen Spitzenplatz im bundesweiten Ranking. Nur in Bremerhaven gelten noch mehr Kinder als arm (40,5 Prozent).
Die am Montag veröffentlichte Studie attestiert dem Wirtschaftsboom-Land Deutschland einen bundesweiten Anstieg der Kinderarmut zwischen 2011 und 2015. 1,93 Millionen Kinder wachsen nach Berechnungen der Stiftung in Familien auf, die von staatlicher Grundsicherung leben, davon rund 542 000 in NRW. Bundesweit ist jedes siebte Kind auf Hartz IV angewiesen. In NRW stieg die Quote von 17 auf 18,6 Prozent.
Das höchste Armutsrisiko haben Kinder in alleinerziehenden Familien und Kinder, die mit zwei und mehr Geschwistern aufwachsen. Die Studienautoren kritisieren zudem, dass die Folgen von Einkommensarmut für Kinder in Deutschland weder systematisch noch regelmäßig untersucht würden.