Essen. Die Mafia-Morde in Duisburg hätten NRW wachrütteln müssen. Doch fast zwei Jahre nach der Bluttat erhebt die SPD schwere Vorwürfe: Das Innenministerium sei untätig und verharmlose die Gefahr. Auch Mafia-Experte Jürgen Roth beklagt die Ignoranz der Politiker. Dabei sei NRW längst ein Mafialand.
Jener Tag im August 2007 warf ein Schlaglicht auf eine verborgene Ecke des Landes. Bei den Morden in Duisburg zeigte die Mafia in NRW ihre brutale Fratze. Sechs Italiener starben vor einer Pizzeria im Kugelhagel. Eine Bluttat, die nach Einschätzung der Ermittler auf das Konto der kalabrischen Ndrangheta geht. Mafia-Experten und der Bund Deutscher Kriminalbeamter hatten bereits zuvor gewarnt, dass der Einfluss der Mafia in NRW unterschätzt werde.
Fast zwei Jahre nach der Bluttat erhebt der innenpolitische Sprecher der SPD-Landtagsfraktion nun schwere Vorwürfe. Karsten Rudolph wirft dem Innenministerium im Anti-Mafia-Kampf Untätigkeit, Verharmlosung und Informationsblockaden vor. Die SPD-Fraktion bereitet derzeit eine Große Anfrage an die Landesregierung vor. „Es wird Zeit, dass sich Regierung und Parlament mit der Mafia eingehend beschäftigen“, sagt Rudolph. Man wolle nach wie vor nicht zugeben, dass NRW im Fadenkreuz der Mafia stehe.
Der Mafia-Experte und Buchautor Jürgen Roth teilt diese Einschätzung. Seine These: Italienische und russische Mafia-Clans haben Deutschland und auch NRW längst unterwandert – mithilfe von Politik und Wirtschaft. DerWesten sprach mit ihm über Mafia-Zentren in NRW, korrupte Banker, Geldwäsche bei der WestLB und die Ignoranz der Politik.
Ihr Buch trägt den beunruhigenden Titel „Mafialand Deutschland“. Ist die Lage in Nordrhein-Westfalen auch so dramatisch?
Jürgen Roth: Nordrhein-Westfalen ist durchaus ein Mafialand. Die italienische Mafia hat hier einen ihrer wichtigsten Stützpunkte. Die Mafia-Zentren sind Düsseldorf, Dortmund, Duisburg, Oberhausen, Gelsenkirchen, Wuppertal, Köln und Leverkusen. Hier sind sowohl die Ndrangheta aus Kalabrien als auch die Cosa Nostra und Camorra vertreten.
Warum ist NRW für die Mafia so attraktiv?
Roth: In den 70er Jahren haben sich viele italienische Arbeiter in NRW niedergelassen. Im gleichen Zug kamen auch Familienangehörige der Mafia ins Land. Sie haben einen idealen sozialen und kulturellen Hintergrund vorgefunden. Teilweise stammten die Arbeiter aus den gleichen Städten und Dörfern wie die Mafia-Clans. Zudem ist NRW ein reiches Land, in dem man viel Geld verdienen und kriminell erwirtschaftetes Geld ideal investieren kann. Und genau das ist passiert.
Sie warnen davor, dass die Mafia unsere Gesellschaft schleichend unterwandert. Wie geschieht das?
600 NRW-Beamte im Mafia-Kampf
Das Landeskriminalamt wollte die Recherchen von Jürgen Roth nicht kommentieren. Auch bei Fragen nach Zahlen und Einschätzungen der Mafia-Aktivitäten in NRW hält sich die Behörde weitgehend bedeckt.
Der SPD-Rechtsexperte Klaus Uwe Benneter hatte jüngst kritisiert, dass das Bundeskriminalamt und die Landeskriminalämter sich seit dem 11. September 2001 auf die Terrorismusbekämpfung konzentrierten – und immer weniger Beamte im Kampf gegen die Mafia einsetzen würden. Diesen Vorwurf wies das LKA NRW zurück. „In NRW sind aus der Abteilung Organisierte Kriminalität keine Stellen für die Terrorismusbekämpfung verlagert worden“, sagt Abteilungsleiter Thomas Jungbluth. In NRW seien mehr als 600 Beamte in den Kreispolizeibehörden und beim LKA im Kampf gegen Organisierte Kriminalität eingesetzt. Die Zahl habe sich seit mehreren Jahren nicht verändert.
Roth: Das Ziel der Mafia ist überall das gleiche: die Legalisierung der Illegalität. Das heißt, all das Geld, das durch kriminelle Geschäfte erwirtschaftet wird, muss reingewaschen werden. Das kann die Mafia nur erreichen, indem sie feste Kontakte in die Gesellschaft pflegt, zu Bankern, Immobilienkaufleuten, Fondsmanagern und Anlageberatern. Die werden einfach gekauft. Oder erpresst. Und das ist der erste Schritt der Infiltration der Gesellschaft. Der zweite ist die Einflussnahme auf Wirtschaft und Politik. Das geschieht in Deutschland sicher noch nicht in dem Umfang wie in Italien. Aber es gibt erste Ansätze. Aufgrund ihrer erheblichen wirtschaftlichen Macht kann sich die Mafia auch hierzulande vieles kaufen.
Sie werfen unter anderem der WestLB vor, mutmaßlichen Mafiosi bewusst bei der Geldwäsche geholfen zu haben.
Roth: Im Fall der WestLB sollen zwei Kunden mit engen Verbindungen zur Russenmafia elf Milliarden Dollar über ihre deutschen Konten gewaschen haben. Es handelt sich um die Cherney-Brüder. Sie konnten bis heute nicht verurteilt werden, weil sie unter dem schützenden Dach des Kreml operieren. Aber bei solchen Aktionen haben immer auch korrupte deutsche Banker ihre Finger mit im Spiel.
Die WestLB hat jedoch 1999 mit anderen Banken zusammen Anzeige erstattet.
Roth: Es blieb ihr auch nichts anderes übrig. Sie hat aber vorher schon lange Geschäfte mit den Cherney-Brüdern gemacht, obwohl internationale Polizeibehörden wie das FBI oder das BKA vor ihnen gewarnt haben. Es war der WestLB also durchaus bekannt, dass ihre Kunden höchst suspekt sind. Die WestLB hat auch nach 1999 weiter Geschäfte mit den Cherney-Brüdern gemacht. Sie bekamen über Strohleute in New York insgesamt 68 Millionen Euro an Krediten gewährt. Dort, wo es Geld zu verdienen gab, war die WestLB immer dabei, egal ob das Geld legal war oder die Quellen höchst fragwürdig für einen ehrenwerten Banker.
Sind unsere Banken vielfach skrupellos, wenn es um das schmutzige Geld der Mafia geht?
Roth: Es gibt natürlich auch Banker, die nicht skrupellos sind. Aber ich glaube, in dieser Branche spielen Skrupel und Werte kaum eine Rolle. Es geht hauptsächlich um Gewinne. Da fragt man nicht, woher das Geld stammt. Mir hat Antonio Costa, das ist der stellvertretende UN-Generaldirektor, vor wenigen Tagen folgendes gesagt: ‚Dank der Banker und Anwälte ist es kriminellen Gruppen gelungen, multinationale Unternehmen zu werden, eine Art Mafia Borghese oder White-Collar Syndikate.’
Sie werfen aber auch der Landesregierung in NRW vor, den Einfluss der Mafia jahrzehntelang unterschätzt zu haben.
Roth: Die Landesregierung würde jetzt noch schlafen, wenn es die sechs Morde in Duisburg nicht gegeben hätte. Der Bund Deutscher Kriminalbeamter hat immer darauf aufmerksam gemacht, wie massiv der Einfluss der italienischen Mafia, insbesondere der Ndrangheta, in NRW ist. Aber es hat sich niemand darum gekümmert, weil alles relativ ruhig und reibungslos verlaufen ist. Nach diesen Morden herrschte dann plötzlich, wie so oft, große Aufregung.
Welche Anzeichen gab es vor dem Sechsfach-Mord in Duisburg für die Ausbreitung der Mafia in NRW?
Roth: Es gab eine Vielzahl von Indizien. NRW war nie nur ein Ruheraum, sondern stets auch ein Operationsraum der Mafia, vor allem bei Drogen- und Waffengeschäften. Die Polizei hat bei Durchsuchungen immer wieder Maschinenpistolen oder sogar Panzerabwehrraketen bei Familien der Ndrangheta gefunden. Bei Finanzbetrügereien waren sie auch ganz groß. Es gab zudem Hinweise auf Beziehungen ins Innenministerium und zu hohen Polizeiführern in Duisburg. Das war nie nachprüfbar, aber das Gerücht kursierte jahrelang bei den Italienern.
Welche Anzeichen gab es für diese Verbindungen?
Roth: Bestimmte Köpfe der Ndrangheta wurden offenbar über Aktionen der Polizei frühzeitig informiert.
Sie zitieren in Ihrem Buch einen Mafia-Paten, der sagt: „Auch deutsche Politiker stehen auf unserer Gehaltsliste.“ Wie groß ist der Einfluss auf die Politik in NRW?
Roth: In Italien stehen sehr viele Politiker auf der Gehaltsliste der Mafia. Warum sollte es in Deutschland anders sein? Glücklicherweise haben wir noch keine italienischen Zustände. Wir haben aber genau wie in Italien eine strukturelle Korruption. Und das ist die Basis, auf der sich alles andere entwickeln kann.
Hat der Sechsfach-Mord in Duisburg das Land wachgerüttelt? Wird jetzt mehr unternommen?
Roth: Nein, das sind alles Scheinaktionen. Ich bin zurzeit in Italien, habe mit Staatsanwälten und Polizisten der Anti-Mafia-Einheit gesprochen. Die sagen alle übereinstimmend, dass sich nichts verändert habe in Deutschland. Die Ignoranz sei immer noch unendlich hoch. Deutsche Politiker würden noch nicht einmal ansatzweise verstehen, was Mafia bedeutet. Hier in Italien ist man enttäuscht, dass die Deutschen nicht begriffen haben, dass die Mafia zu einem gesellschaftlichen und politischen Problem geworden ist. Dass sie auch erheblichen Anteil an der Wirtschaftskrise hat. Deutschland betrachtet das alles noch als ein Problem der Italiener. Doch in Wirklichkeit ist es genauso ein deutsches Problem geworden.
Inwiefern hat die Mafia auch bei der Wirtschaftskrise ihre Finger im Spiel?
Roth: Die Mafia verfügt über ein milliardenschweres Cash-Vermögen. Viele Unternehmer bekommen bei den Banken keine Kredite mehr. Und die gehen dann zur Cosa Nostra oder zur Ndrangheta und erhalten dort problemlos das notwendige Geld. Insofern ist die Mafia die einzige, die wirklich von der Wirtschaftskrise profitiert. Sie kauft sich auf diese Art und Weise in große Wirtschaftsunternehmen ein.
Der Bundestag hat jetzt das Anti-Mafia-Gesetz verabschiedet. Es erschwert die Geldwäsche in Deutschland. Ein Zeichen dafür, das die Politik die Gefahr doch zunehmend ernst nimmt?
Roth: Dieses Gesetz ist „just for show“. Die Geldwäsche wird inzwischen so raffiniert über Strohleute betrieben, dass das neue Gesetz völlig wirkungslos ist. Solange man nicht genügend ausgebildete Kriminalisten zur Verfügung stellt, und das genau geschieht nicht, bleibt das reiner Wahlkampf.