Essen. Bundesweit steigen die Kriminalitätszahlen. Doch nur sehr wenige Tatverdächtige werden am Ende bestraft. Stimmt die Kriminalstatistik nicht?

Wie sicher ist Deutschland? Einmal im Jahr kommt das Fieberthermometer zum Einsatz. 2016 werden die Innenminister des Bundes und der Länder die „Polizeiliche Kriminalstatistik“ am 23. Mai vorstellen. Anstieg oder Absinken der Kriminalitätszahlen? Aufklärungsquoten? Die Zahl der Ausländer unter den Tatverdächtigen?. Das sind die Tendenzen, die dann genannt werden und die Grundlagen für die politischen Entscheidungen der nächsten Zeit sein können.

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Tatsächlich ist schon viel vorab ersichtlich. Die 16 Bundesländer haben die Datenbasis – die Entwicklung des Jahres 2015 - längst abgeliefert. Unser Vergleich der Länder-Daten ergibt: In diesem Jahr zeichnet sich bundesweit ein Anstieg der Kriminalität um etwa 4,1 Prozent ab. Das bedeutet, dass mehr als 6.330.000 Straftaten gemeldet sind. Auch die Aufklärungsquote, also die Zahl der Straftaten, die die Polizei klären konnte, ist bundesweit gesunken.

Wie kommt es zu dem dramatischen Anstieg der Taten?

Die zunächst erschreckend erscheinende Entwicklung ist ein „Ausreißer“. Sie ist zumeist auf die Flüchtlingswelle zurückzuführen. Flüchtlinge, die oft ohne Papiere die Flucht überstanden haben oder nicht im ersten Land der EU, das sie erreicht haben, Asyl beantragt haben, verstoßen schon damit gegen Melde- oder Asylgesetze. Sie sind „Illegale“.Diese Verstöße fließen dann, wenn sie überhaupt auffallen, in die Polizeiliche Kriminalstatistik ein.

Wo wirkt sich das wie aus?

Beispiel Bayern. Die Zahl aller Straftaten dort ist um 23 Prozent angestiegen. Konkret: Auf 805.000. Das gab es noch nie. Davon sind allerdings mehr als 200.000 Verstöße aus dem Asylbereich. Die „richtige“ Kriminalität im Freistaat ist dagegen von 607.000 im Jahr 2014 auf 595.000 gemeldete Straftaten im Jahr 2015 gesunken.

Gilt das auch für NRW?

Es ist im Trend vergleichbar. 1.517.488 registrierte Straftaten melden die Regionen an Rhein, Ruhr und Weser. Das sind 1,1 Prozent mehr als im Vorjahr 2014. Das ist zwar immerhin ein Viertel aller Straftaten in Deutschland und damit deutlich höher als der Anteil der NRW-Bevölkerung an der des Bundes (21 Prozent).

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Aber der Zuwachs liegt weit unter dem Bundesdurchschnitt (plus 4,1 Prozent) - und auch in NRW hat es knapp 28.000 Verstöße gegen das Asylverfahrens- und Freizügigkeitsgesetz gegeben. Rechnen wir die heraus, bleibt hier der Kriminalitäts-Zuwachs unter einem Prozent.

Welche Strafttaten werden häufiger als vorher gemeldet, welche kommen weniger vor?

Für NRW gilt: Weniger Straftaten werden hier auf den Gebieten der Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung und der Internet-Kriminalität gemeldet. (Zur Klarstellung: Die massenhaften Vorgänge der Silvesternacht in Köln haben erst für die Statistik Gewicht, die 2017 vorgestellt wird).

Stark angestiegen sind 2015 vor allem Diebstahls- und Einbruchsfälle. Das ist ein Phänomen in fast allen Bundesländern mit ausgeprägt städtischer Bevölkerung, so auch in Berlin und Hamburg.

Die bundesweiten Tendenzen?

Insgesamt werden bundesweit die Trends der letzten Jahre bestätigt: Gewaltkriminalität nimmt mit 127.000 Fällen von gefährlicher oder schwerer Körperverletzung um 1,3 Prozent zu. Die Zahl der Morde und der Totschlagsdelikte sinkt weiter (2116 - 63 weniger als 2014), Vergewaltigung und Raub gehen zurück,. Wohnungseinbrüche - und Ladendiebstähle steigen um etwa sieben Prozent. Die geografische Verteilung: Nördlich der Main-Linie lockt es besonders viele Einbrecher an, der Osten mehr Autodiebe.

In welchen Bundesländern gibt es besonders viel Kriminalität, in welchen signifikant weniger?

Die Polizei-Statistiker haben dazu die „Häufigkeitszahl“ eingeführt – also die Zahl der Straftaten pro 100.000 Einwohner, damit eine Vergleichbarkeit da ist. Danach sind Berlin mit rund 16.000 Fällen pro 100.000 Einwohner und Hamburg und Bremen mit je 13.000 besonders durch Kriminalität belastet. Nordrhein-Westfalen liegt mit knapp über 8600 Straftaten bundesweit auf Platz fünf. Das beiden sichersten Bundesländer (Häufigkeitszahl zwischen 5000 und 6500) sind Baden-Württemberg und Bayern.

Wo kann die Polizei am besten aufklären, wo ist sie weniger erfolgreich?

Die Rangfolge ist klar: Bayern liegt seit Jahren mit jetzt 72 Prozent aufgeklärter Fälle uneinholbar vorne. Es folgen ein ost/west-gemischtes Mittelfeld (zum Beispiel Thüringen 64 Prozent, 60 Prozent in Baden-Württemberg, 62 Prozent Rheinland-Pfalz, 55 Prozent Sachsen) und die Schlusslichter: Zu ihnen zählt neben Hamburg (43 Prozent), Berlin (44 Prozent) und Bremen (47 Prozent) eben auch das bevölkerungsstärkste Bundesland NRW mit 49,6 Prozent – noch unter der 50 Prozent-Marke mit fallender Tendenz.

Die Statistik wird mit großem Aufwand präsentiert. Wie aussagekräftig ist sie wirklich?

Das ist seit vielen Jahren äußerst umstritten. Selbst der frühere Chef des Bundeskriminalamtes, Jörg Ziercke, hat das in Frage gestellt. Bei vielen Delikten, dazu zählen zum Beispiel Sexualverbrechen, ist die Grauzone riesig. Experten glauben, dass wahrscheinlich 90 Prozent der Vergewaltigungen nicht gemeldet werden und von den gemeldeten die Mehrzahl nicht juristisch nachweisbar ist.

Internet-Kriminalität wird häufig – vor allem von Unternehmen, die einen schlechten Ruf fürchten - nicht angezeigt. Und dann gibt es da noch die so genannte „Ausfilterung in Strafverfahren“. Sie ist der eigentlich entscheidende Kriminalitäts-Maßstab im Rechtsstaat.

Was bedeutet „Ausfilterung“?

Es besagt, wie viele Straftäter am Ende verurteilt werden (können). Bei sechs Millionen gemeldeter Straftaten der Polizeilichen Kriminalstatistik (hier die Zahlen aus dem Jahr 2012) gab es schließlich nur 607.000 Verurteilte. Wie das kommt? Die Hälfte der Straftaten kann schon mal nicht geklärt werden, es gibt also keinen Tatverdächtigen.

Dann werden herausgefiltert: Mehrfachtaten bereits erfasster Straftäter und die nicht strafmündigen Verdächtigen im Alter unter 14 Jahren. Weitere rund 1,3 Millionen Verdächtige werden nicht angeklagt, weil ihre Schuld nicht oder nur unzureichend nachzuweisen ist oder die Schuld geringfügig ausfällt.

Schließlich bleiben, nach Freisprüchen oder Verfahrenseinstellungen durch die Gerichte, die zehn Prozent der gesamten registrierten Straftaten übrig, bei denen die Verantwortlichen einer Strafe zugeführt werden.