Essen. . Die Finanzierung der Pflege wankt: In vollstationären Einrichtungen ist in NRW inzwischen jeder Fünfte auf Sozialhilfe angewiesen.

NRW-Gesundheitsministerin Barbara Steffens (Grüne) hat ein ­radikales Umdenken in der Pflege­finanzierung gefordert. "Pflege­bedürftige dürfen nicht länger ein­seitig mit den steigenden Kosten so stark belastet werden. Genau wie bei der Krankenpflege muss dies eine Aufgabe der Solidargemeinschaft sein", sagte Steffens unserer Redaktion. Auch für Angehörige und Kommunen, die die Kosten tragen müssten, wenn das Einkommen der Pflegebedürftigen nicht reiche, werde die Belastung ­immer größer.

Hintergrund für den Notruf der Ministerin sind alarmierende Zahlen. Denn trotz Pflegeversicherung wird die Versorgung für immer mehr pflegebedürftige Menschen in Nordrhein-Westfalen zum Armutsrisiko. Nach Angaben des NRW-Gesundheitsministeriums ist inzwischen ­jeder fünfte Pflegebedürftige in vollstationären Einrichtungen auf ­Sozialhilfe angewiesen, weil eigene Einnahmen und die Leistungen der Versicherung zur Deckung der ­Kosten nicht mehr ausreichen.

Kosten von 900 Millionen Euro für NRW-Kommunen

Allein zwischen 2010 und 2014 kletterten die jährlichen Sozialhilfeausgaben der NRW-Kommunen für Bewohner von Pflegeheimen um 19 Prozent auf insgesamt knapp 900 Millionen Euro. Damit fällt in NRW mehr als ein Viertel der in Deutschland aus dem Sozialhilfetopf gezahlten "Hilfe zur Pflege" in Höhe von insgesamt 3,5 Milliarden Euro an, obwohl hier nur rund 21 Prozent der Gesamtbevölkerung leben.

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43 Prozent aller Pflegebedürftigen in NRW haben zudem Anspruch auf Pflegewohngeld. Mit diesem ­Zuschuss für vollstationäre Pflegebedürftige soll das Abrutschen der Pflegeheimbewohner in die Sozialhilfe gebremst werden.

Eintritt in die Pflege soll verzögert werden

Auch der rasante Anstieg der Zahl der Pflegefälle insgesamt gibt Anlass zur Sorge. Laut der im Zwei-Jahres-Rhythmus erhobenen Pflegestatistik NRW waren zuletzt mehr als 581.000 Menschen auf Leistungen der Pflegekassen angewiesen, mehr als ein Viertel davon in Heimen. Laut Prognosen soll die Gesamtzahl bis 2030 auf 700.000 steigen.

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Steffens dringt auch hier auf ein Umdenken, Stichwort: Vorbeugung. Jedes Jahr werden allein in NRW rund 100.000 Menschen neu in die Pflegestufe 1 eingruppiert. Steffens: "Wenn es uns gelingen würde, durch Prävention dies um nur einen Monat nach hinten zu verschieben, ­könnten jährlich rund 45 Millionen Euro an Pflegekosten gespart und stattdessen gut in Vorsorge investiert werden."

Auch 1900 Euro Rente reichen bei Pflegestufe 2 nicht mehr 

Seit fast zwei Jahren lebt Martha S. in einem Pflegeheim. Nach dem Tode ihres Mannes war eine Betreuung für die demenzkranke Frau aus dem Ruhrgebiet in den eigenen vier Wänden nicht mehr möglich. Mit knapp 1900 Euro Rente ist Martha S. auf dem Papier weit von Altersarmut entfernt. Zusammen mit den Leistungen der Pflegekasse für vollstationäre Pflege nach Pflegestufe 2 in Höhe von 1330 Euro kommt eine monatlich stolz klingende Summe zusammen. Trotzdem ist das kleine Barvermögen von Martha S. schon nach knapp zwei Jahren fast komplett aufgebraucht. Denn bei Heimkosten von rund 3600 Euro sowie den laufenden Kranken- und Pflegekassenbeiträgen klafft Monat für Monat eine Lücke von über 800 Euro. Sollte es der heute 84-Jährigen einmal schlechter gehen und eine Versorgung nach Pflegestufe 3 notwendig sein, würde sich der Eigenanteil der Rentnerin für den Heimplatz um 500 Euro erhöhen. Bald schon könnte Martha S. auf Sozialhilfe angewiesen sein.

Martha S. ist kein Einzelfall. Die Sozialhilfeausgaben für Pflegeheimbewohner sind in den letzten Jahren dramatisch gestiegen. Be­liefen sich die Kosten aller NRW-Kommunen für die sogenannte Hilfe zur Pflege 2010 auf rund 753 Millionen Euro, waren es 2014 schon 896 Millionen Euro und ­damit 19 Prozent mehr (Bundesschnitt: 16,7 Prozent). Jeder fünfte der rund 160.000 Altenheim­bewohner in NRW ist auf Sozial­hilfe angewiesen. Rund 43 Prozent – also deutlich mehr als jeder dritte Pflegebedürftige – hat Anspruch auf Pflegewohngeld, eine staatliche Leistung, die es so nur in NRW gibt. Mit ihr soll der Sozialhilfefall hinausgezögert werden. Die rasante Zunahme der Zahlen geht in erster Linie auf das Konto immer weiter steigender Pflegefälle. Allein zwischen 2011 bis 2013 ist die Zahl der Pflegebedürftigen in NRW um über sechs Prozent auf rund 581.000 ­gestiegen. Bundesweit sind es 2,6 Millionen. Experten rechnen bis zur Mitte des Jahrhunderts mit über 900.000 Pflegefällen allein in NRW (4,5 Millionen im Bund).

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Aufnahmealter liegt im Schnitt bei 86 Jahren

Entsprechend wächst die Zahl der Heimbewohner, obwohl sich das durchschnittliche Aufnahmealter dank besserer Prävention ­immer weiter verschiebt. Nach Angaben der Freien Wohlfahrtspflege NRW liegt es derzeit bei 86 Jahren.

Angesichts der Entwicklung fordert NRW-Gesundheitsministerin Barbara Steffens einen Kurswechsel in der Pflegepolitik. „Pflege wird zunehmend wieder zum ­Armutsrisiko“, sagte Steffens ­unserer Redaktion. Die Grünen-Politikerin macht dafür eine nach ihrer Ansicht verfehlte Politik des Bundes verantwortlich. Nötig sei eine deutlich höhere Beteiligung der Pflegeversicherung an den Kosten der Pflege. Konkrete Zahlen nannte Steffens nicht. Angesichts des stark steigenden Bedarfs könne aber künftig eine menschenwür­dige Pflege nur gesichert werden, wenn das dafür notwendige zusätzliche Personal solidarisch finanziert werde, so die Ministerin.

Wer zahlt die Ausbildung für Altenpflege?

Eine deutliche Schieflage sieht Steffens besonders bei den Aus­bildungskosten der Pflegeberufe. Die Krankenpflegeausbildung wird laut der Ministerin aus den Zahlungen der Krankenkassen an die Krankenhäuser finanziert, die Kosten der Altenpflegeausbildung aber zum größten Teil von den ­Pflegebedürftigen selbst. Die Pflegeversicherung übernehme nur einen Anteil von 1,8 Prozent. Im Zuge der geplanten einheitlichen Pflegeausbildung müsse der Bund auch für eine einheitliche Finanzierung sorgen, fordert Steffens. Auch die Pflegereform könne sich in Teilen für Heimbewohner finanziell negativ auswirken. Für einige Pflegebedürftige vor allem mit niedriger Pflegestufe, die ab 2017 neu in ein Pflegeheim ziehen, drohe der Eigenanteil gegenüber dem heu­tigen Modus höher auszufallen.

Zumindest Martha S. aus unserem Beispielfall wird ab 2017 aber wohl nicht schlechter gestellt sein. Alle, die bereits Pflegeleistungen erhalten, sollen diese mindestens im gleichem Umfang weiter beziehen, heißt es in der Erläuterung zum Pflegestärkungsgesetz II des Bundesgesundheitsministeriums. Für die allermeisten solle es sogar mehr Geld geben.