Essen. Von Algerien bis Zypern ist alles dabei: Ein Blick auf die Herkunftsländer der Ausländer im Revier belegt, wie bunt die Region tatsächlich ist.
- Ein Blick auf die Herkunftsländer der Ausländer im Revier belegt, wie bunt die Region tatsächlich ist
- Wohnbevölkerung Essens stammt aus weit mehr als 50 Ländern
- Duisburg und Gelsenkirchen ragen mit einem Ausländer-Anteil von 19 Prozent heraus
Wir werden weniger, aber bunter – das schien lange unausweichliches demographisches Schicksal des Ruhrgebiets zu sein. Einer ingesamt schrumpfenden Bevölkerung, so die weit verbreitete Ansicht, steht ein ständig steigender Anteil von Zugezogenen gegenüber. Neue Zahlen zeigen jetzt: Inzwischen hat sich die Lage geändert. Das Ruhrgebiet wächst wieder, wenn auch nur leicht. Und bunt ist das Revier schon lange, sogar viel bunter als bislang angenommen.
Beim Blick in die aktuelle Landesstatistik über den Anteil der Bevölkerung mit ausländischem Pass fällt sofort ins Auge: Im Ruhrgebiet ist quasi die Welt zuhause. Am Beispiel der Reviermetropole Essen lässt sich das exemplarisch belegen: Die Reihe der Herkunftsländer ausländischer Einwohner liest sich wie die Teilnehmerliste einer Versammlung der Vereinten Nationen. Von A wie Algerien bis Z wie Zypern – aus weit mehr als 50 Ländern stammt die ausländische Wohnbevölkerung der neuntgrößten Stadt Deutschlands.
Zahl der Syrer und Iraker ist sprunghaft angestiegen
Vier Malteser lebten 2015 laut der Statistik-Behörde IT.NRW in Essen, das ist die mit Abstand kleinste Gruppe unter der ausländischen Wohnbevölkerung. Die mit Abstand größte sind – nicht ganz unerwartet – die 16 000 Türken. Aber es wohnen auch 3354 Chinesen, rund 1300 Niederländer und 436 US-Amerikaner in Essen. Die Polen sind mit über 7500 Einwohnern die zweitstärkste Nationalität nach den Türken – wie übrigens in vielen anderen Ruhrgebietsstädten und -kreisen auch (siehe Grafik).
Kaum überraschen kann, dass wegen der aktuellen Flüchtlingskrise in Nahost die Zahl der Syrer und Iraker sprunghaft angestiegen ist. Fast 7700 Menschen aus den beiden von Krieg und Bürgerkrieg heimgesuchten Ländern wohnen laut Statistik zurzeit in Essen, zusammengenommen also mehr als aus dem EU-Nachbarland Polen.
Ausländerquote im Revier nicht höher als anderswo
Insgesamt leben in Essen über 85 000 Menschen mit ausländischem Pass. Macht einen Anteil von knapp 15 Prozent an der Gesamtbevölkerung. Damit hebt sich Essen nicht sonderlich ab von der durchschnittlichen Ausländerquote in deutschen Großstädten. Betrachtet man das Ruhrgebiet als Ganzes, liegt die Ausländerquote von rund 13 Prozent nur unwesentlich über dem NRW-Schnitt von 12,8 Prozent. Anders ausgedrückt: Im Revier leben zwar viele ausländische Mitbürger (rund 665 000), aber im Vergleich zu anderen Ballungsräumen ist die Region mit der in Deutschland ausgeprägtesten Zuwanderungsgeschichte keineswegs eine aus dem Rahmen fallende multikulturelle Hochburg.
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Diesen Eindruck bestätigt auch die Forschung. „Großstädte sind die bevorzugten Ziele von Migranten“, sagt der Bochumer Sozialwissenschaftler David Gehne. Aber andere Ballungsräume erreichen einen zum Teil deutlich höheren Anteil an Bewohnern mit Migrationshintergrund als das Ruhrgebiet. Gehne, der am Zentrum für interdisziplinäre Regionalforschung (ZEFIR) der Ruhr-Uni arbeitet und derzeit gemeinsam mit Wissenschaftlern der Universität Duisburg-Essen ein Forschungsprojekt über die Mehrsprachigkeit im Ruhrgebiet vorantreibt, verweist auf Ergebnisse des Mikrozensus 2013. Danach liegen die großen Ruhrgebietsstädte beim Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund allenfalls im Mittelfeld deutscher Großstädte.
Mehr Griechen als Japaner in Düsseldorf
Frankfurt ist die Stadt mit der mit Abstand höchsten Migrantenquote: 45 Prozent. Die Zahlen sind mit der aktuellen NRW-Ausländerquote zwar nur bedingt vergleichbar, weil unter anderem auch Spätaussiedler und ihre Kinder sowie Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft und alle Deutsche mit einem ausländischen Elternteil hinzugezählt werden. Doch auch mit diesem erweiterten Zuwanderungsbegriff liegen die Städte im Revier nicht an der Spitze der Tabelle. Essen kommt danach auf einen Migrantenanteil von 24 Prozent, Duisburg auf 30, Dortmund auf knapp 31 Prozent. Forscher Gehne kommt in seiner Arbeit auf ähnliche Größenordnungen.
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Die am stärksten von Zuwanderung geprägte NRW-Stadt jedenfalls ist Köln. 2015 lebten von den knapp 2,3 Millionen Ausländern in Nordrhein-Westfalen mit rund 214 000 knapp zehn Prozent in der Domstadt. Auch für Düsseldorf lässt sich ausweislich der NRW-Statistik eine Ausländerquote von 23 Prozent errechnen. Bemerkenswert, dass nicht nur die oft zitierten Japaner den polyglotten Charakter der Landeshauptstadt prägen, sondern auch eine große griechische Gemeinde.
"Selbstverständlich ist Deutschland ein Einwanderungsland"
Hohe Ausländerquote verzeichnen auch Wuppertal (18 Prozent), Bonn (16 Prozent) und Bielefeld (15,5 Prozent). Im Revier ragen Duisburg und Gelsenkirchen mit einem Anteil von 19 Prozent heraus, während es etwa in Bochum lediglich 12 Prozent sind.
Auffällig ist überall die kulturelle Vielfalt, die zudem regional sehr unterschiedlich ausfällt. Hinzu kommt, dass manche Bevölkerungsgruppen im Alltag weniger auffallen als andere. „Es leben viele polnische Staatsangehörige unter uns, aber sie leben räumlich nicht so konzentriert im Stadtgebiet wie andere Bevölkerungsgruppen“, sagt David Gehne. Selbst für den Bochumer Wissenschaftler, der sich seit Jahren mit Zuwanderung beschäftigt, ist die lange Liste der Nationalitäten erstaunlich. „Es ist doch sehr überraschend, wie bunt unsere Gesellschaft inzwischen geworden ist“, sagte Gehne. Selbstverständlich sei Deutschland ein Einwanderungsland. „Es wundert mich, warum das in der öffentlichen Diskussion nicht längst als Tatsache angesehen wird.“
Lange Erfahrung mit Migration kann dem Revier helfen
Besonders das Ruhrgebiet hat hier seine Traditionen. „In den vergangenen hundert Jahren hat diese Region eine ständige Abfolge von Zuwanderung erlebt“, so David Gehne. Heißt: Erst zogen viele Polen ins industriell aufblühende Kohlerevier, nach dem Zweiten Weltkrieg kamen dann die vielen Flüchtlinge aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten.
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Ab den 50er Jahren folgten die Gastarbeiter, nach 1990 viele Bürger aus der ehemaligen DDR und aus Südosteuropa. Die Region sieht Gehne daher auch für künftige Zuwanderungen besser gerüstet als manche andere. „Das Ruhrgebiet hat eine lange Erfahrung mit Migration und Andersartigkeit“, so der Wissenschaftler. Zwar falle man sich hier nicht ständig in die Arme und feiere Multikulti. „Aber es gibt eine gewisse Gelassenheit im Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen.“