Essen. Das Land Nordrhein-Westfalen und die Kommunen eine gerechte Verteilung der Flüchtlingskosten verabredet. Doch beide Seiten rechnen aneinander vorbei.

Die Städte in NRW klagen darüber, dass das Land ihnen im laufenden Jahr viel zu wenig Geld für die Unterbringung von Flüchtlingen geben möchte. Die Lücke zwischen den tatsächlichen Kosten der Kommunen und der geplanten Erstattung des Landes beträgt offenbar mehrere Hundert Millionen Euro. Besonders hart betroffen sind Revierstädte wie Dortmund, Essen, Bochum, Mülheim und Oberhausen. Vielerorts stehen die Haushaltspläne für 2016 auf der Kippe. Mögliche Folgen: Steuererhöhungen und weitere Einsparungen bei sportlichen, kulturellen und sozialen Angeboten.

Erst im Oktober hatten sich Land und Kommunen auf eine Pauschale für jeden Flüchtling verständigt: 10. 000 Euro pro Asylbewerber und Jahr. Das Land will nur Kosten für 181.000 Flüchtlinge erstatten, gemäß einer Prognose vom Herbst. Die Kommunen sagen aber, dass mindestens 50. 000 Asylbewerber mehr nach NRW gekommen seien. Essens Kämmerer Lars Martin Klieve zufolge fehlen allein seiner Stadt 46 Millionen Euro für die Flüchtlingsunterbringung. Die Summe von 10. 000 Euro pro Flüchtling ist nach Einschätzung der Kommunen ohnehin viel zu niedrig. Oberhausens Kämmerer Apostolos Tsalastras hält 16.000 Euro für realistisch.

Kosten für Flüchtlinge - Pro-Kopf-Finanzierung ab 2017

FlüchtlingeBochums Kämmerer Manfred Busch plant für das laufende Jahr mit Ausgaben von mindestens 65 Millionen Euro. Darin seien Aufwendungen für Sicherheitskräfte, Hausmeister oder Verwaltung noch nicht enthalten. Den Ausgaben stehen laut Busch aber nur Zuweisungen des Landes in Höhe von 37,4 Millionen Euro gegenüber. Das NRW-Innenministerium weist die Kritik der Kommunen zurück. Ein Sprecher betonte, die Flüchtlingsversorgung sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe für Bund, Länder und Kommunen. NRW habe die Unterstützung der Städte und Gemeinden im laufenden Jahr um ein Drittel auf insgesamt 1,94 Milliarden Euro aufgestockt. Ab 2017 werde auf eine Pro-Kopf-Finanzierung der Flüchtlingskosten umgestellt.

10.000 Euro pro Flüchtling und Jahr sind nicht genug

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Die Haushaltsplanungen geraten durcheinander. In Dortmund, Wuppertal, Oberhausen, praktisch überall in NRW. Dortmunds Kämmerer Jörg Stüdemann fürchtet „Verhandlungschaos in vielen Räten“, weil vielerorts über neue Einsparungen geredet werden dürfte. Es geht um die Flüchtlingskosten. 10.000 Euro pro Kopf und Jahr sollen fließen. Das haben Land NRW und Kommunen vereinbart. Dennoch rechnen beide Seiten aneinander vorbei. In Mülheim, zum Beispiel, wurden zum 1. Januar 2300 Asylbewerber gezählt. Das Land will aber nur Geld für 1700 Asylbewerber erstatten. Es rechnet aufgrund einer von der Wirklichkeit längst überholten Prognose vom Herbst 2015. Und 10.000 Euro pro Kopf sind viel zu wenig, findet Wuppertals Kämmerer Johannes Slawig. 14.000 Euro seien realistisch.

Der Städtetag NRW hat eine „eindringliche Bitte“ an NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD) gerichtet. Er möge es den Städten erlauben, Kostenerstattungen des Landes in ihre Haushalte einzuarbeiten, die sich an den tatsächlichen Flüchtlingszahlen bemessen. „Besonders wichtig ist das für Städte mit großer Finanznot, die mit Haushaltssicherungs- und Haushaltssanierungskonzepten arbeiten müssen“, sagte Helmut Dedy, stellvertretender Geschäftsführer des Städtetages, unserer Redaktion.

Essener Haushaltsdefizit verzehnfacht

In Essen sind die möglichen Folgen für den ohnehin auf Kante genähten Haushalt dramatisch. Kämmerer Lars Martin Klieve rechnet in diesem Jahr damit, dass Essen auf 46 Millionen Euro Kosten für Unterbringung und Versorgung sitzen bleibt. Die chronisch unterfinanzierte Stadt musste wegen der Flüchtlinge 250 Stellen neu schaffen, etwa im Job-Center. Allein die Investitionen in Flüchtlingsunterkünfte beziffert Kämmerer Klieve auf über 132 Millionen Euro. Die Folge: Abschreibungskosten von jährlich zehn Millionen

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Die Differenz zwischen den Kosten, die die Stadt ermittelt hat, und den Erstattungen durch das Land kann Essen nur zu einem geringen Teil im Haushalt kompensieren. Das ursprünglich geplante Haushaltsdefizit steigt laut Klieve dadurch um mehr als das Zehnfache auf 37,3 Millionen. Die für 2017 angepeilte schwarze Null im Haushalt der Stärkungspakt-Stadt wackelt wieder. Eine Erhöhung der Grundsteuer zur Deckung der Kosten hält Klieve aber „für keine gute Lösung“.

Wird Witten wegen Flüchtlingen Rekord-Grundsteuer verlangen?

Wittens Kämmerer Matthias Kleinschmidt sieht dagegen weitere Belastungen auf die Bürger zukommen. Sollte es keine Kompensation der bislang ungedeckten Flüchtlingskosten in Höhe von rund acht Millionen Euro geben, müsse Witten wohl oder übel eine weitere Erhöhung der Grundsteuer B um 250 Prozentpunkte ins Auge fassen, sagte Kleinschmidt. Der Hebesatz könnte dann auf einen bundesweiten Spitzenwert von über 1000 Punkten klettern. Auch Kleinschmidt hält die Basiszahlen des Landes für zu niedrig. Realistisch sei eine Pauschale von 13.500 bis 14.000 Euro. Ähnlich rechnet Recklinghausen. „10.000 Euro sind nicht ausreichend“, so eine Sprecherin. In Duisburg geht man von einer Deckungslücke von 4,4 Millionen Euro aus.

Unklare Kostenübernahme für „Geduldete“

Bochum, das derzeit rund 5000 Flüchtlinge beherbergt, kalkuliert gar mit einem Minus von knapp 30 Millionen Euro im laufenden Jahr. Unklar sei zudem die Kostenübernahme für die Menschen, die unter den Status der Duldung fallen, also als Asylbewerber abgelehnt sind, aber vorerst nicht abgeschoben werden können. In NRW sind das rund 52.000 Personen. „Das Land übernimmt für diese rasch wachsende Gruppe nur drei Monate pro Jahr die Kosten“, erklärt Bochums Kämmerer Manfred Busch. Oft müssten die Menschen zum Teil deutlich länger unterstützt werden.

Die Städte sehen sich überfordert, fordern Hilfe von Land und Bund. Und zwar nicht nur in der akuten Notsituation, sondern auf lange Sicht. Bochums OB Thomas Eiskirch verweist darauf, dass es jetzt um die Flüchtlinge gehen müsse, die hier bleiben, damit also um Kitas, Schulen, Ausbildung. Bei der Integration der Menschen müsse der Bund mit ins Boot.