Düsseldorf. . Die Zahl der Tierversuche hat sich seit dem Jahr 2000 um rund 70 Prozent erhöht. NRW-Wissenschaftsministerin will Tierversuche überflüssig machen.

Fast drei Millionen Tiere wurden 2014 bundesweit für Tierversuche verwendet, darunter 1,9 Millionen Mäuse und 2800 Affen und Halbaffen. Die Zahl der Tierversuche hat sich seit dem Jahr 2000 sogar um rund 70 Prozent erhöht. Eine aus Sicht von Tierschützern und der Landesregierung alarmierende Entwicklung. Daher kurbelt jetzt NRW die Forschung nach Alternativen zum Tierversuch an. In Düsseldorf entsteht ein „Centrum für Ersatzmethoden zum Tierversuch“ (CERST) am Leibniz-Institut für umweltmedizinische Forschung.

„Langfristig sollen Tierversuche möglichst vollständig ersetzt werden“, gibt Wissenschaftsministerin Svenja Schulze (SPD) das Ziel vor. CERST soll bis 2019 mit einer Million Euro unterstützt werden. Mit modernsten Methoden werden in dem Zentrum die Auswirkungen von Medikamenten und Chemikalien auf die Entwicklung von Ungeborenen und Kleinkindern untersucht. In herkömmlichen Versuchen verwenden Forscher dazu schwangere Nagetiere, erklärt Projektleiterin Ellen Fritsche. „Wir verwenden hingegen Stammzellen, die aus menschlichen Hautzellen gewonnen werden. Das ist ethisch völlig unbedenklich“, sagt die Professorin für Umweltmedizinische Toxikologie an der Uni Düsseldorf.

Tierschutzbund wertet Tierversuche als "Armutszeugnis" für Forschungsstandort Deutschland

Christiane Baumgartl-Simons vom Bundesverband Menschen für Tierrechte lobt das CERST-Projekt. Sie spricht von einem zukunftsorientierten Meilenstein. „Wir haben seit 2007 dafür gekämpft.“

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Der Deutsche Tierschutzbund hält die anhaltend hohe Zahl der Tierversuche für ein „Armutszeugnis“ am Forschungsstandort Deutschland. Der Bund investiere mit rund fünf Millionen Euro im Jahr viel zu wenig in die Suche nach Alternativen. Besonders in der Grundlagenforschung und in der Gentechnik würden immer mehr Tiere verwendet – rund eine Million Tiere, deren Erbgut genetisch verändert wurde, alleine im Jahr 2013. Nach Informationen unserer Redaktion registrierte das Lan­desumweltamt in NRW im Jahr 2013 pro Monat 44 Anträge auf Tierversuche. 2007 waren es „nur“ 26.

„Und das ist nur die Spitze des Eisbergs“, sagte Tierschutzbund-Sprecherin Lea Schmitz unserer Redaktion. „In der offiziellen Statistik werden jene Tiere gar nicht erfasst, die ,auf Vorrat’ gezüchtet werden, aber nie in den Versuch gelangen, sondern einfach getötet werden.“

So wird im Institut in Düsseldorf "ethisch unbedenklich" geforscht 

Sind Tierversuche heute schon verzichtbar? Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) sagt Nein: „Obwohl heute schon viele Fragen der Wissenschaft durch den Einsatz von Zellkulturen, computergestützte Verfahren und weitere Alternativmethoden beantwortet werden können, kann auf den Einsatz von Tieren für wissenschaftliche Zwecke – unter anderem in der medizinischen Forschung – noch nicht verzichtet werden.“

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Aber in NRW suchen Forscher Alternativen zum Tierversuch. Das „Centrum für Ersatzmethoden zum Tierversuch“ (CERST) in Düsseldorf ist hier Vorreiter. Es experimentiert „ethisch unbedenklich“ mit Stammzellen aus der menschlichen Haut. „Es gibt zahlreiche Substanzen und Medikamente, die in der Schwangerschaft fatale Auswirkungen auf den Fötus haben können. Diese Präparate testen wir – ohne Tiere“, erklärt Projektleiterin Ellen Fritsche. Dazu werden die menschlichen Stammzellen in einer Petrischale den Chemikalien ausgesetzt, dann beobachten die Wissenschaftler, ob sich die Zellen regelgerecht entwickeln. „Solche Tests werden Tierversuche nicht komplett überflüssig machen“, dämpft Fritsche allzu hohe Erwartungen. „Aber unsere Studien können dazu beitragen, die Zahl der Tierversuche zu reduzieren.“

Im Prinzip verläuft der Test so: Je nach Kulturlösung in der Petrischale entwickeln sich die Stammzellen zu Herzmuskelzellen oder zu Nervenzellen weiter, erklärt Fritsche. „Das ist faszinierend, die Herzzellen beginnen tatsächlich in der Schale zu schlagen.“

Forscher messen Aktivität der Zellen

Mit einer speziellen Apparatur werden die elektrischen Aktivitäten der Zellen, ihre Signale, erfasst. Entwickeln sich solche Zellen im Beisein einer Chemikalie oder eines Medikaments, messen die Forscher die Veränderungen der Signale. Der Vorteil dieser Methode liegt darin, dass menschliche Zellen bessere Aufschlüsse über die Entwicklung und die Reaktionen des Menschen geben sollen als zum Beispiel die einer Maus oder Ratte. „Die Signalwege bei Mensch und Tier sind teilweise unterschiedlich“, erläutert Fritsche. „Es gibt Speziesunterschiede, die man im Tierversuch nicht erkennt.“

Auf der anderen Seite haben Tierversuche für die Wissenschaftler den entscheidenden Vorteil, dass die Auswirkungen einer Substanz auf einen kompletten Organismus erkennbar werden. Dies kann man mit Zellen in der Petrischale nicht nachbilden. Um belastbare Ergebnisse zu erzielen, müssten zunächst Tierversuche und die Laborforschung mit Stammzellen kombiniert werden.

Tierschutz und Forschungsfreiheit gleichberechtigt

In Deutschland sind Tierschutz und Forschungsfreiheit seit 2002 gleichberechtigt im Grundgesetz verankert.2014 wurden 2.798.463 Tiere für die Forschung eingesetzt, rund 1,9 Millionen davon waren Mäuse, 362.530 Ratten, 272.925 Fische und 105.784 Kaninchen. Versuche mit Menschenaffen finden seit 1991 nicht mehr statt. Knapp drei Millionen Versuchstiere sind eine hohe Zahl, zugleich werden nach Angaben des BMEL rund 750 Millionen Nutztiere pro Jahr geschlachtet.