Essen. . Die Lammert-Kritik an der Politik im Revier provoziert Widerspruch. Forscher Bogumil meint: Ohne finanzielle Hilfe von außen hat die Region keine Chance.
Die von Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) in der WAZ angestoßene Diskussion über das Ruhrgebiet geht weiter. Der Vorsitzende der RVR-Verbandsversammlung (Ruhrparlament), Josef Hovenjürgen, erkennt eine „mangelnde Bereitschaft zur Selbstkritik“ an der Ruhr: „Kirchturmdenken hat der Entwicklung über viele Jahre nicht gutgetan, sonst würde das Ruhrgebiet heute anders dastehen“, sagte Hovenjürgen der WAZ.
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Der Regionalforscher Jörg Bogumil (Ruhr-Universität Bochum) hält die große finanzielle Unterstützung, die das Ruhrgebiet über viele Jahrzehnte hinweg erhalten hat, für angemessen. Seit Ende der 1950er-Jahre seien an der Ruhr 500 000 Arbeitsplätze abgebaut worden. Diese Situation „konnte das Revier nicht selbst bewältigen“, so Bogumil. Angesichts der hohen Subventionen für den Bergbau muss man nach Ansicht des Professors „schon die Frage stellen, ob man zu lange alte Strukturen aufrechterhalten hat.“ Aber diese Debatte helfe heute nicht weiter.
Roland Mitschke, Vorsitzender der CDU-Fraktion im Ruhrparlament, meinte, der Wille zur Zusammenarbeit sei in der Region nach wie vor nicht sehr ausgeprägt. Er nannte als Beispiel das lange Ringen um eine Neuorganisation der Revierparks.
„Die Region profitiert von ihren Rändern“
Fehlt der Ruhrgebietspolitik der Wille zur Zusammenarbeit? Pflegt die Region die „Lebenslüge“ von einer unzureichenden Förderung? Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) hat im Interview mit dieser Zeitung deutliche Worte gefunden und damit einen heftigen Streit ums Revier ausgelöst. Der Politikwissenschaftler und Regionalforscher Jörg Bogumil (Ruhr-Uni Bochum) widerspricht Lammert zum Beispiel energisch.
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„Ich finde nicht, dass die große Lösung, die Lammert anspricht, helfen würde. Es wäre nicht im Sinne der Region, einen Bezirk Ruhr zu schaffen, der sich selbst verwaltet“, sagte der Professor. „Gäbe es zum Beispiel einen Landschaftsverband Ruhr, dann müssten die Kommunen im Jahr dafür 24 Millionen Euro mehr bezahlen als heute. Das Revier profitiert von seinen umliegenden Rändern: vom Münsterland, von Südwestfalen, vom Rheinland. Die Metropole Ruhr für sich einzugrenzen, würde ihr mehr schaden als nutzen“, so Bogumil.
Der Forscher hält auch nichts von der Idee, einen direkt gewählten Regionalpräsidenten oder einen Repräsentanten im Ruhrgebiet einzuführen: „Es wäre besser, wenn die Oberbürgermeister sich weiter verbünden würden und wenn der Regionalverband Ruhr (RVR) weiter gestärkt würde. Die ,neuen’ Oberbürgermeister-Typen wie Frank Baranowski in Gelsenkirchen und Sören Link in Duisburg sind offener für Kooperationen als die alten Ruhrgebiets-OB.“
Pleite, aber für den Osten zahlen
In der Einschätzung, es sei stets sehr viel Geld von außen ins Ruhrgebiet geflossen, ist sich Bogumil mit Lammert einig. „Das war auch richtig so. Seit Ende der 1950-er Jahre sind durch den Niedergang von Kohle und Stahl 500 000 Arbeitsplätze verloren gegangen. Das konnte das Revier nicht selbst bewältigen.“ 70 Prozent der Haushalts-Defizite im Revier seien durch äußere Faktoren bedingt: durch hohe Arbeitslosigkeit und damit verbundene hohe Kosten für Sozialleistungen.
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Die verschuldete Stadt Oberhausen habe zum Beispiel gar keine Chance, selbst aus der Haushaltskrise herauszukommen, müsse aber über den Solidarpakt Defizite in Ostdeutschland ausgleichen. Jörg Bogumil ist sich sicher: „Ohne externe Hilfe können diese Revier-Haushalte gar nicht saniert werden.“
Der Vorsitzende des Ruhrparlaments, Josef Hovenjürgen (CDU), pflichtete Norbert Lammert bei: „Kirchturmdenken hat der Entwicklung nicht gut getan, sonst würde das Ruhrgebiet heute anders dastehen. Viele Fördermittel sind in die Produktionsabsicherung, statt in den Strukturwandel geflossen.“
Langes Gerede über die Revierparks
Sein Parteifreund Roland Mitschke, Chef der CDU-Fraktion im Ruhrparlament, distanzierte sich gestern von der RVR-Direktorin Karola Geiß-Netthöfel. Die hatte sich im Gespräch mit dieser Zeitung zuversichtlich gezeigt, dass die vollzogene Aufwertung ihres Verbandes künftig zu mehr Zusammenarbeit führen werde. Seine bisherigen Erfahrungen mit Zusammenarbeit in der Regionalpolitik gäben wenig Anlass zu Optimismus, meinte Mitschke.
Ein Negativbeispiel sei die Diskussion über die angeschlagenen Revierparks. „Durch Zusammenführung der bestehenden Gesellschaften sollen die Einrichtungen wirtschaftlich optimiert werden. In der RVR-Verbandsversammlung wurde dies mit den Stimmen der Oberbürgermeister schon vor acht Jahren und erneut vor zwei Jahren beschlossen. Auf die Umsetzung warten wir bis heute“, so Mitschke.
Er nennt weitere Beispiele: Auf der kommunalen Ebene arbeiteten mehr als 700 Menschen in der Wirtschaftsförderung, auf der regionalen Ebene nur 20. Im Revier gibt es mehr als ein Dutzend Leitstellen für Notfalleinsätze, in Berlin nur eine.“ Und der Regionalverband RVR sei für seine wichtige Aufgabe der Regionalplanung personell „völlig unterdimensioniert.“