Essen. Kinder aus Hartz-IV-Familien haben schlechtere Bildungschancen, das belegt eine Studie. Die Autoren fordern, Städte sollen gezielt auf Eltern zugehen.

Im Ruhrgebiet wachsen über 28 Prozent der unter 3-Jährigen Kinder in Armut auf. In Städten wie Essen oder Gelsenkirchen sind es deutlich mehr als ein Drittel. Eine aktuelle Auswertung von Schuleingangsuntersuchungen zeigt: Armutsgefährdete Kinder sind schon am Beginn ihrer Schulkarriere dramatisch benachteiligt. Die Fünf-bis Sechsjährigen aus Familien, die Sozialleistungen erhalten sprechen schlechter Deutsch, können nicht so gut lesen, leiden öfter unter Konzentrationsmängeln und sind häufiger zu dick.

Im Auftrag der Bertelsmann Stiftung untersuchten das Zentrum für interdisziplinäre Regionalforschung (Zefir) der Ruhr-Uni Bochum und die Stadt Mülheim die Ergebnisse von knapp 5000 Schuleingangsuntersuchungen aus den Jahren 2010 bis 2013. „Dies ist das erste Mal, dass der Einfluss von Armut auf die Entwicklung von Kindern großflächig und über einen längeren Zeitraum ausgewertet wurde“, sagt Thomas Groos, Zefir-Forscher und einer der Autoren der Studie unserer Redaktion.

43 Prozent sprechen mangelhaft Deutsch

Nach Auswertung der Schuluntersuchung stellten die Forscher fest, dass 43 Prozent der armutsgefährdeten Kinder mangelhaft Deutsch sprechen, während dies bei nur bei 14 Prozent der Kinder zutrifft, die in gesicherten Einkommensverhältnissen aufwachsen. Probleme mit der Körperkoordination haben demnach 24,5 Prozent der Kinder aus Hartz-IV-Familien, bei der Vergleichsgruppe sind es 14,6 Prozent. Ähnliches gilt bei den Tests zur Visuomotorik, also der Koordination von Auge und Hand (25 zu 11 Prozent). Probleme beim Zählen haben 28 Prozent, gegenüber 12,4 Prozent.

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Die Studienautoren wollen nicht nur auf Defizite hinweisen, sondern die Kommunen auffordern, aktiv gegenzusteuern. „Kitas in sozialen Brennpunkten brauchen mehr Geld und Personal“, sagt Regina von Görtz von der Bertelsmann Stiftung. Es gehe darum „Präventionsketten“ zu bilden, um Kinder frühzeitig zu fördern. Dazu gehöre auch, Familien gezielt anzusprechen, um Kindern einen Kita-Besuch zu ermöglichen. Auch Sport- und Kulturvereine sollten stärker mit Kitas zusammenarbeiten.

Die Landesregierung begrüßt die wissenschaftliche Begleitung des Modellversuchs „Kein Kind zurücklassen“. Nur so erfahre die Politik, „welche Maßnahmen sinnvoll sind und wo wir nachsteuern müssen“, sagte Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) unserer Redaktion.

Wächst ein Kind behütet auf, ist es klar im Vorteil 

Die Schuleingangsuntersuchung ist für viele Kinder ihr erster wichtiger Test im Leben. Sie sind aufgeregt – ein großes Ereignis. Gewicht und Größe werden gemessen, das Kind muss Farben erkennen, geometrische Figuren nachziehen und einen Menschen malen. Es soll auf einem Bein hüpfen, beim Würfeln die Zahlen erkennen, Sätze nachsprechen und eine Bildergeschichte in die richtige Reihenfolge bringen. Aus all dem kann der Arzt ersehen, ob das Kind reif ist für die Schule.

Experten wissen: Je länger ein Kind eine Kita besucht, je weniger es fernsieht und je stabiler sein soziales Umfeld ist, desto besser schneidet es in der Regel ab. Wer behütet und abgesichert aufwächst, ist daher klar im Vorteil. Kinder, die dieses Glück nicht haben, sind schon beim Beginn ihrer Bildungskarriere im Hintertreffen.

So zeigt sich Armut: Ergebnisse von knapp 5000 Schuleingangsuntersuchungen.
So zeigt sich Armut: Ergebnisse von knapp 5000 Schuleingangsuntersuchungen. © Denise Ohms

Die Bertelsmann-Studie, erstellt vom Bochumer Zentrum für interdisziplinäre Regionalforschung (Zefir) und der Stadt Mülheim, belegt, dass Kinder, deren Familien von staatlicher Grundsicherung leben, deutlich zurückliegen. Die Schuleingangsuntersuchungen erkennen bei ihnen mehr als doppelt so häufig Defizite in der Entwicklung wie bei Kindern, die in gesicherten Verhältnissen aufwachsen.

Zugleich leben sie deutlich zurückgezogener, erläutert Thomas Groos von Zefir. So erlernen lediglich zwölf Prozent dieser Kinder ein Instrument, bei der Vergleichsgruppe spielen knapp ein Drittel Geige, Klavier oder Gitarre. Vor ihrem dritten Geburtstag gehen 31 Prozent der Kinder aus Hartz-IV-Familien in eine Kita, bei den Übrigen sind es über 47 Prozent.

Konzentration von Armut

Und nur 46 Prozent der armen Kinder sind vor dem Schuleintritt in einem Sportverein aktiv, bei den anderen Kindern sind es 77 Prozent. Dabei wirke sich Sport nicht nur positiv auf die körperliche Entwicklung aus, so die Studienautoren, sondern habe auch einen positiven Effekt auf das Sozialverhalten und die Sprachkompetenz.

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Auch ein früher Kita-Besuch könne die negativen Folgen von Kinderarmut mindern, allerdings sei dies kein Automatismus, so Groos. Ein positiver Effekt tritt nur ein, wenn die Kita-Gruppen sozial gemischt sind. Groos: „Es gibt eine Konzentration von Armut in bestimmten Kitas.“ Da für kirchliche Träger die Konfessionszugehörigkeit ein wichtiges Aufnahmekriterium ist, sehen sich vor allem die städtischen Einrichtungen mit dem Problem konfrontiert. Um sie zu unterstützen, stellt die Landesregierung seit 2014 zusätzlich 45 Millionen Euro für Kitas in sozialen Brennpunkten bereit. „Diese Maßnahmen wirken bereits“, sagt Groos.

"Kein Kind zurücklassen"

Die Wissenschaftler zeigen auch auf, wo die Kommunen ansetzen können: Sie sollten Eltern gezielt ansprechen, damit sie ihre Kinder früh in eine Kita bringen. Zudem sollte sportliche Aktivität der Kinder gefördert werden. Um arme Kinder besser zu erreiche, sollten sich Kitas, Vereine, Schulen, Eltern und Ämter enger vernetzen.

Die Landesregierung sieht sich durch die Studie in ihrem Modellvorhaben „Kein Kind zurücklassen“ bestätigt. „Die aktuelle Studie macht deutlich, dass es durch gezielte Anreize gelingen kann, die Chancen armer Kinder deutlich zu verbessern“, sagt Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) dieser Zeitung. „Das heißt aber auch, Ungleiches ungleich zu behandeln, also die gezielte Förderung und Ausstattung von Kitas in sozialen Brennpunkten mit mehr Geld, mehr Personal und spezifischen Förderangeboten“, betont Kraft.