München. Sandro D. und Melih K. wurden beim Nagelbombenanschlag in der Kölner Keupstraße schwer verletzt. Beim NSU-Prozess in München schildern sie ihr Leiden.

Sie waren 21 und 24 Jahre alt, als die Nagelbombe in der Kölner Keupstraße explodierte. Sandro D. und Melih K.. Zwei Freunde, die sich einfach nur zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort aufgehalten hatten. Den Döner, den sie sich gerade gekauft hatten, hielten sie noch unberührt in den Händen, als ein „mächtiger Druck” ihnen von hinten die Beine wegriss. Beide wurden sie sehr schwer verletzt – und galten der Polizei dennoch als tatverdächtig.

Bis zu diesem Moment hat Sandro D. alles sehr nüchtern erzählt, hat über die Nägel gesprochen, die seine Oberschenkel zerfetzten, über das zwanzig Zentimeter große Stück Haut, das es ihm aus der Schulter gerissen hat und über die unzähligen Operationen, die er nach dem 9. Juni 2004 durchleiden musste.

Doch nun steht er am Richtertisch des Saales A 101 im Münchener Oberlandesgericht und fährt mit einem Stift über das Foto der Keupstraße aus der Vogelperspektive: „Hier sind wir entlang gegangen. Da standen wir, als die Bombe explodierte, und da ist der Hauseingang, in dem ich später saß. Dort ist das Foto von mir entstanden, das mich seit zehn Jahren verfolgt. Das schlimmste, das von mir je gemacht worden ist.“

Drei Tage im Koma

Sandro D. zerfetzten vier zwölf Zentimeter lange Zimmermannsnägel die Oberschenkel, sie brachen ihm den Knochen. Diese Nägel sind durch die Explosion so erhitzt, dass sie ihm das Fleisch verbrennen. Drei Tage liegt er im Koma, wird notoperiert. Es ist die erste von zahlreichen Operationen, die noch folgen sollen. „Und eine ganze Woche lang hat man mir nicht gesagt, was mit meinem Freund, was mit Melih ist”, sagt Sandro D.

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Als erstes von 22 Opfern aus der Kölner Keupstraße wird er an diesem Morgen im Münchener NSU-Prozess gehört. Oben, in der ersten Reihe auf der Empore, sitzt Sandros Mutter, Käthe Röstel. Sie weiß wie kaum ein anderer, wie es ihrem Sohn wirklich geht. Seit Jahren ist er in Therapie, den Job am Kölner Flughafen hat er verloren. Seine junge Ehe zerbrach. Sein Körper ist entstellt und schmerzt. „Eigentlich ist es heute für ihn schwerer als direkt nach dem Anschlag. Seit er weiß, wie viele Fehler der Staat gemacht hat. Aber dieser Tag, diese Aussage vor Gericht ist wichtig für ihn. Sie bringt alles zu einem Abschluss”, sagt sie.

Der Saal stöhnt auf

Wie schwer Sandros Verletzungen waren, wird jedoch erst klar, als sein Arzt, Prof. Dietmar Penning von der Kölner Uniklinik, sie genau erläutert, als er Röntgenbilder zeigt. Ähnlich wie bei Sandros Freund Melih K., dessen Operateur Fotos aus den ersten Wochen nach dem Anschlag per Beamer an die Wand wirft. Da geht ein ums andere mal ein Seufzen durch den Saal, ein leises Aufstöhnen. So furchtbar sind die Bilder.

Melih K. geht es heute kaum besser als seinem Freund. Wenn er seinen Körper beschreiben soll, wie der nach dem Anschlag aussah, dann fällt ihm der Vergleich mit Gunther von Hagens „Körperwelten” ein. Bis auf die Adern, die sich bewegenden Sehnen konnte er schauen. „Solch ein Anblick brennt sich ein!”, sagt Melih K.. Seine Ausbildung musste er nach dem Anschlag abbrechen, inzwischen arbeitet als Justizangestellter.

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Und auch er wusste tagelang nicht, was mit seinem Freund geschehen war, ob er noch lebte. „Im Krankenhaus hieß es, wir dürften keinen Kontakt haben, weil wir als Täter verdächtigt würden”, erzählt Melih K. Alles offenbar deshalb, weil die beiden Männer sich ganz in der Nähe jenes Fahrrads befunden hatten, das die NSU-Terroristen Mundlos und Böhnhardt mitsamt Sprengstoff vor einem Friseur abgestellt hatten. Später hätten er und Sandro dann bei der Polizei auch noch „Fingerabdrücke und DNA abgeben müssen”.

Beate Zschäpe bleibt unbewegt

Was er, Melih K., denn bei der Polizei gesagt hätte, wen er für den Täter halte, will ein Nebenklage-Anwalt von ihm wissen. Und Melih K. wiederholt seine Aussage von damals: Das müsse ein Ausländerhasser sein. Ein Nazi. Wer so etwas auf offener Straße mache, der wolle viele Ausländer mitnehmen. „Dafür braucht man kein Ermittler sein!”, sagt Melih K. dann noch, und die Zuschauer im Saal applaudieren ihm spontan.

Beate Zschäpe, die Hauptangeklagte im NSU-Prozess, sie hört sich das alles an. Unbewegt wie so oft. Ihr Gesicht meist hinter einem Vorhang von Haaren verborgen. Zwischendurch, in den Pausen, scherzt und lacht sie mit ihren Verteidigern. Als sei sie zwar Teil dieses Verfahrens, dieses seit Monaten dreimal die Woche stattfindenden Prozesses, aber nicht angeklagt.