Köln/München. . 22 Menschen wurden 2004 in der Kölner Keupstraße durch eine Nagelbombe verletzt. Ab Dienstag sagen einige von ihnen im NSU-Prozess in München aus.

Die gut 700 Zimmermannsnägel ließen Fensterscheiben und Leuchtreklamen zerbersten, sie bohrten sich in Häuserfassaden wie Autos und – nicht ­zuletzt – tief in die Haut der Opfer. 22 Menschen wurden verletzt, ­einige von ihnen lebensgefährlich.

Bald zehn Jahre nach dem Nagelbomben-Anschlag in der Kölner Keupstraße befasst sich ab ­Dienstag der Münchener NSU-Prozess mit dem, was am 9. Juni 2004 geschah. Zum ersten Mal werden die Opfer ausführlich über ihr Leiden sprechen.

Bereits zwei Stunden vor Prozessbeginn war der Antrag von Zuschauern, die in den Gerichtssaal wollten, riesig. Die Initiative „Keupstraße ist überall“ demonstriert seit 8 Uhr unter dem Motto „Für eine Gesellschaft ohne Rassismus“ vor dem Gerichtsgebäude in der Nymphenburger Straße in München. Die Initiatoren erwarten im Laufe des Tages mehrere hundert Teilnehmer. Die Gruppe plant eine Dauerkundgebung vor dem Gericht und eine Demo in der Innenstadt. Alles, um den Opfern des ­Anschlags den Rücken zu stärken, um zu zeigen: Dieser Anschlag galt nicht euch persönlich. Es war die Keupstraße, diese multikulturelle Gemeinschaft, die zum Hassobjekt erklärt und angegriffen wurde.

Lange Zeit selbst unter Verdacht

Lange Zeit sind sie selbst dem Tatverdacht ausgesetzt gewesen. Man vermutete einen Racheakt, Schutzgeld-Erpressung oder Streitigkeiten im Drogen- und Rotlichtmilieu. Erst viele Jahre später wird bekannt, dass die mutmaßlichen NSU-Terroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt von den ­Videokameras des um die Ecke gelegenen Musiksenders Viva an ­diesem Tag im Juni mehrfach aufgenommen worden sind.

Vor dem Gericht in München demonstriert die Initiative „Keupstraße ist überall“.
Vor dem Gericht in München demonstriert die Initiative „Keupstraße ist überall“. © Kai Mudra

Wie sie, ein Damenfahrrad schiebend, den Eingang zur Keupstraße passieren. Mit jenem Hartschalenkoffer, in dem sich die Nagelbombe befand. Wie sie das Fahrrad vor dem Friseursalon Özcan abstellen und sich später per Rad vom Tatort entfernen. Sechs Minuten später, um 15.56 Uhr, detoniert die ­Bombe, mit der Kraft von 5,5 Kilo Sprengstoff und Hunderten bis zu zehn Zentimeter langen Nägeln.

„Für die 20 Betroffenen, die vor Gericht aussagen, werden das ­keine einfachen Tage. Sieben Jahre lang wurden sie von der Polizei wie Täter behandelt. Jetzt werden sie Beate Zschäpe ins Gesicht sehen, werden den Polizisten, die gegen sie ermittelten, gegenübertreten“, sagt Timo Glatz, Sprecher der ­Initiative „Keupstraße ist überall“.

Schwerer Auftritt im großen Saal

Dass es ein starkes Bedürfnis der Opfer gibt, über ihre Verletzungen zu sprechen, über ihre Operationen und das Leben unter Verdacht, das bestätigt auch der Kieler ­Alexander Hoffmann, der eine ­Bewohnerin der Keupstraße als Nebenklage-Anwalt vertritt. „Ja“, sagt Hoffmann, „es gibt dieses ­Bedürfnis. Aber man darf nicht die Erwartung haben, dass danach ­alles gut ist. Das Misstrauen, das man ihnen entgegenbrachte, fällt ja nicht einfach von ihnen ab.“

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Auch der Auftritt im Gerichtssaal sei für viele der Opfer „extrem schwierig“. „Vor über 100 Prozessbeteiligten zu sprechen, in all der Aufregung. In so einer Situation ­zittern schon andere“, sagt Hoffmann. Seine Mandantin habe die Hoffnung, dass auch nach Prozess-Ende weiter an dem Thema gewalttätige Neonazis gearbeitet werde.

Auch wenn der Prozess keine neuen Ermittlungsergebnisse gebracht habe, er habe deutlich gemacht, wie sehr das NSU-Trio Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos von einer „breiten rechten Bewegung“ getragen worden sei.

Am Dienstag also beginnt das, worauf die Bewohner der Keup­straße so lange schon warten. Um 9.30 Uhr wird Sandro D. als erstes Opfer den Saal A101 im Münchener Gericht betreten, um auszu­sagen. Danach wechseln sich drei Tage lang Opfer und behandelnde Ärzte ab. Manche der Verletzten mussten mehrfach operiert werden. Viele von ihnen leiden bis heute unter dem, was damals geschah.