München. Verbrennungen, Traumata, Nägel im Bein: Die Opfer des NSU-Anschlags in der Kölner Keupstraße haben dem Gericht am Dienstag ihre Leiden geschildert.

Ihre Schilderungen sind unerträglich. Zwei junge Männer, berichteten am Dienstag dem NSU-Prozess wie schwer sie die Nagelbombe in der Kölner Keupstraße getroffen hat. Verbrannte Haut, zehn Zentimeter lange Zimmermannsnägel, die so tief in die Opfer eindrangen, dass im Fall von Sandro D. der Oberschenkelknochen gespalten wurde.

Der 31-Jährige kann sich nur noch an einen heftigen Schlag in den Rücken erinnern. Ihm habe es die Beine weggezogen und er schlug mit dem Hinterkopf auf den Gehweg auf. So schildert der junge Mann seine Erinnerung. Als er wieder zu sich kommt, befindet er sich in einer Qualmwolke. Er schleppt sich trotz des verletzten Oberschenkelknochens noch auf die andere Straßenseite und bricht im Eingang eines Geschäfts zusammen.

10-Zentimeter-Nagel spaltet Oberschenkelknochen

Dann kann er sich nur noch an Helfer erinnern und daran, dass er von der Spitze eines seiner Daumen den Knochen sah. Die Helfer hatten ihn daran gehindert, nach den Wunden an den Beinen zu greifen. Er sieht seinen Freund Melih K. auf der anderen Straßenseite liegen, ruft nach ihm, kann aber nichts hören und weiß nicht, ob dieser überlebt hat. Kurz darauf wird der junge Mann im Rettungswagen in ein künstliches Koma versetzt.

Auch interessant

Auch Melih K. der neben Sandro D. lief, trifft die Explosionswelle voll. Neun Zimmermannsnägel entfernen die Ärzte aus seinem Körper. Sein linker Arm, das Gesicht sind verbrannt. Hautärzte hätten die Splitter aus seinem Gesicht mir einer Bürste entfernen müssen, schildert ein Gutachter die Schwere der Verletzungen.

Was wirklich passiert war, auch Melih K. kann sich an die Explosion kaum erinnern. Er erzählt dem Gericht, dass er mit den Beinen in Richtung des Friseurladens lag als er wieder aufwachte. Seine Haare hatten gebrannt, Helfer löschen diese mit Wasser. Er hört seinen Freund Sandro nach ihm rufen, kann aber nicht antworten.

Die beiden Männer müssen während der Explosion des Sprengsatzes unmittelbar neben diesem vorbeigelaufen sein. Das Fahrrad, auf dem die Nagelbombe montiert gewesen sein soll, hatte beide nicht wahrgenommen. Sie sehen auch niemanden, der vielleicht weggelaufen ist oder das Rad abgestellt hatte.

Eltern wurden nicht vom Krankenhaus informiert

Melih K. erzählt dem Gericht auf Nachfrage eines Opferanwalts, dass seine Eltern damals nicht über seine Verletzungen und Einlieferung ins Krankenhaus informiert wurden. Seine Großmutter habe in der Türkei einen Fernsehbericht über den Anschlag gesehen und bei der Familie in Deutschland angerufen, ob alle Gesund seine.

Auch interessant

Als die Eltern ihren Sohn nicht per Handy erreichen, fragten seine Freundin und weitere Bekannte in den umliegenden Kliniken, ob er eingeliefert wurde. „Meine Eltern kamen erst ins Krankenhaus, als ich bereits operiert worden war“, erzählt er.

Beide Opfer wurden von der Polizei als Verdächtige geführt. Sie mussten nach der Krankenhausentlassung deshalb auch ihre Fingerabdrücke und eine DNA-Probe abgeben. „Ich wusste fast zwei Wochen nicht, was mit meinen Freund ist“, beklagt sich Sandro S. noch einmal vor Gericht. Ob er tot ist oder noch lebt, habe ihm niemand gesagt. Er vermutet, dass die Polizei es damals verboten habe. Für seine Heilung sei die Ungewissheit damals schlimm gewesen, fügt er noch an.

Trotz ihres Leids schildern die Zeugen ruhig ihre Verletzungen und wie es ihnen danach ergangen ist. Hass ist bei keinem der beiden Männer zu spüren. Melih K. soll schon kurz nach dem Anschlag in einer ersten kurzen Befragung durch Polizisten diesen gesagt haben, dass es „vielleicht Nazis“ waren. Er sprach auch von „Ausländerhassern“ als mögliche Täter. Als einen der Gründe für seinen Verdacht nennt er die Nägel. Diese sollten unschuldige Menschen, Großmütter, Kinder treffen. Das zu sehen, dafür müsse man „kein Ermittler sein“ erklärt er im Gericht unter Beifall von der vollbesetzen Besuchertribüne.

Verletzungen machten Opfer berufsunfähig

Richter Manfred Götzl mahnte zur Ruhe im Gerichtssaal an. Melih K. arbeitet heute als Justizangestellter. Er schildert dem Gericht, dass er trotz der Verletzungen damals versucht habe, seine Lehre zu beenden. Doch er konnte den gewählten Beruf nicht ausüben, dazu waren die Verletzungen zu schwer. Jahrelang hatte er dann nach Orientierung gesucht und 2011 eine Umschulung begonnen, die er erfolgreich beendet hatte.

Sandro D. sucht derzeit Arbeit. Auch er wurde durch die Verletzungen aus der Bahn geworfen. Jahrelang hatte er versucht, die Ereignisse zu vergessen. 2011 aber sei alles wieder hochgekommen, als die möglichen Täter bekannt wurden. Seither habe er wieder psychologische Betreuung.

Auch interessant

Am Nachmittag des 9. Juni 2004 explodierte in der Keupstraße vor einem Friseurgeschäft eine auf einem Fahrrad montierte Nagel-Bombe. Der ferngezündete Sprengsatz soll zudem mit Mindestens 700 Zimmermannsnägeln bestückt gewesen sein. Die Anklage im NSU-Prozess wirft den Anschlag Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt vor. Sie sollen gemeinsam mit Beate Zschäpe die Terrorzelle „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) gebildet haben.

Den Vorwurf erhärten unter anderem Videoaufzeichnungen zweier Überwachungskameras, auf welchen die beiden Männer mit Fahrrädern, in einem Fall auch mit der vermutlichen Bombe zu sehen sein sollen. Die Kölner Polizei konnte den Anschlag nie aufklären. Die Ermittler sind Hinweisen auf eine fremdenfeindliche oder rechtsextreme Straftat kaum nachgegangen. Stattdessen hatten sie die Täter im Umfeld der vorrangig von Menschen türkischer Abstammung bewohnten Keupstraße gesucht. (dpa)