Witten. . Das Leid lindern oder das Leid beenden? Es ist wohl die entscheidendste Frage in der Debatte um Sterbehilfe. Die Palliativ-Medizin verfolgt das Ziel, ein leidloses Sterben zu ermöglichen. Doch die Sterbebegleitung ist nichts, was ein Arzt nebenbei machen kann.

Sterbehilfe verbieten, aber Palliativmedizin stärken – dieser Forderung vieler Politiker schließen sich Palliativmediziner an. Doch wer darauf setzt, muss diese Art der Medizin auch stärken, sagt Dr. Matthias Thöns, Arzt und Schmerztherapeut beim "Palliativnetz Witten": „Man findet immer noch weite Landesteile, in denen es keine spezialisierte ambulante Palliativversorgung gibt.“

Wer Matthias Thöns bei seinen Patienten erlebt, sieht einen Arzt, der seinen Kranken auf dem letzten Wege beisteht, zu jeder Tages- und Nachtzeit – und seit Jahrzehnten um eine flächendeckende, angemessene Versorgung der Sterbenden kämpft.

„60 Prozent benötigen eine palliative Betreuung. Doch selbst wenn man die Palliativversorgungszahlen schönrechnet, so erhalten weniger als 20 Prozent von ihnen wirklich eine solche Versorgung. Wirklich spezialisierte Versorgung erhalten davon dann auch nur noch ein Bruchteil.“

„Wir schlafen in den Tod“

Ein Aspekt werde in der politischen Debatte vergessen: „Die meisten von uns sterben recht leidlos, wenn man die Übertherapie am Lebensende begrenzt, also nicht Chemotherapie bis zur Bettlägerigkeit einsetzt. Stattdessen auf künstliche Ernährung in den letzten Lebensmonaten verzichtet und in den letzten Lebenstagen keinen Sauerstoff gibt. So setzt die natürliche Leidenslinderung ein, wir schlafen in den Tod.“

Nur die Menschen, die beispielsweise durch eine Krebserkrankung unter starken Schmerzen leiden, benötigen verstärkt Hilfe. Thöns: „Man kann sagen, was die in Deutschland zu viel an Chemotherapie bekommen, kriegen sie zu wenig an Morphium.“

Es geht um Fragen existenzieller Natur

Das Team von Mediziner Thöns hat in den letzten zehn Jahren etwa 4000 Patienten bis zum Tod begleitet: „Zwei von ihnen sprangen aus dem Fenster, einer sogar aus dem Hospiz. Das sind für mich persönlich schwere Niederlagen.“ Thöns weiß, dass auf der Palliativmedizin große Hoffnung liegt. Es würde jedoch oft vergessen, dass es sich um eine stark personalisierte Medizin handelt.

Hier wird kein Bein operiert oder Kopfschmerz therapiert. Es geht um Fragen existenzieller Natur, die sich nicht nach Schema F abhandeln lassen: „Ich denke an den Mann mit dem Mundbodenkarzinom, der die Entstellung und den Gestank nicht mehr erträgt. Palliative Sedierung kommt nicht in Frage, es geht ihm ansonsten noch einigermaßen gut. Er sagte mir, er töte sich mit Giftgas. Ich hatte Angst, dass er dabei seine Frau mitnimmt. Was sollte ich da tun: Zwangseinweisung, Fesseln auf dem Sterbebett?“ Thöns entschied sich für die Empfehlung eines Medikamentencocktails.

Was steckt hinter dem Wunsch?

In der Debatte um Palliativmedizin würde häufig untergehen, dass der Wunsch zu sterben, nicht immer durch körperliche Schmerzen begründet ist. „Neun von zehn Selbsttötungen geschehen aus behandelbarer Not, Liebeskummer, Einsamkeit.“ Aber, nicht immer erkenne der Arzt, welche Not wirklich vorliegt.

Steckt statt schwerer Krankheit Einsamkeit hinter dem Wunsch? Würde er, Thöns, in so einem Fall Morphin verschreiben, „wird jeder sagen: der spinnt. Richtig – und die Juristen werden mich in den Knast stecken. Mache ich das bei einem Patienten mit nicht behandelbaren Beschwerden, wird man sagen: Gut so.“

Braucht der Kranke Sterbehilfe – oder braucht er viel eher Lebenshilfe? Um solche Fragen gehe es. Palliativmedizin sei keine Ruckzuck-Medizin, nichts, was ein Arzt mal nebenbei mitmache. Das müsse in die Köpfe der Politiker.