Essen. „Ein 80-jähriger bekommt eher eine neue Hüfte als Hilfe für die Seele“, sagt der frühere SPD-Chef Franz Münterfering im Interview. Der Ex-Politiker ist dagegen, beim Thema Sterbehilfe das Strafrecht zu lockern. Er glaubt sogar, eine solche Debatte über Leben und Tod sei eine Zumutung für die Bundestagsabgeordneten.

Der Bundestag will im Herbst 2015 über veränderte Sterbehilfe-Regeln entscheiden. Der frühere SPD-Chef Franz Müntefering sagt Nein zu einer Lockerung des Strafrechts – und dringt im Interview auf bessere Betreuung kranker und alter Menschen. Er kritisiert: „Ein 80-jähriger bekommt eher eine neue Hüfte als Hilfe für die Seele.“

Warum reden wir heute so viel über Sterbehilfe? Weil alte Menschen mit ihren Beschwerden und Schmerzen länger leben? Oder weil die Gesellschaft selbstbestimmter tun und lassen will, was sie möchte?

Franz Müntefering: Vielleicht ist das so, weil die Menschen mit dem immer höheren Alter nicht zurechtkommen. Weil sie in jüngeren Jahren nicht darüber reden möchten, auch nicht unter Paaren. Aber das Thema ist auch nicht neu. Vor dreißig Jahren haben wir die ersten Hospize eingerichtet. Der Ausbau der Palliativmedizin folgte und der wichtige Schritt der Patientenverfügung. Jetzt kommt der Ruf nach einer gesetzlichen Klärung, ob wir den Wunsch, aus dem Leben zu scheiden, auch aktiv unterstützen sollten.

77 Prozent der Deutschen wollen die aktive Sterbehilfe. Ist das ein Massenphänomen?

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Müntefering: Nein. Es sterben im Jahr rund 870.000 Menschen. Die allermeisten gehen ganz friedlich. Etwa 10.000 töten sich selbst.

Aber Suizid im hohen Alter nimmt zu, sagt die Statistik. Wir hören von alten Frauen jenseits der 95, die nicht todkrank sind. Sie stellen einfach die Nahrungsaufnahme ein.

Müntefering: Unter den Suizid-Fällen sind viele alte und sehr alte Menschen. Nichtessen und Nichttrinken ist eine Methode – nicht immer schmerzfrei. Aber es ist doch auch richtig, dass das Sterben heute in den meisten Fällen weit weniger elendig ist als früher. Früher gab es keine Morphine, die Schmerzen dämmen. Dieser Anstieg der Fälle im Alter wirft doch viel eher ein Licht auf die Alterspsychiatrie in unserem Land. Die ist nicht gut. Die ist schlecht.

Wie sollte sie besser werden?

Müntefering: Die alten Menschen sind in ihrer Einsamkeit alleine. Ich habe in Kliniken Fälle erlebt, da hat ein alter Mensch drei Wochen lang keinen Besuch bekommen. Sie bekommen als 80-Jähriger eher eine neue Hüfte als Hilfe für die Seele. Das erklärt auch, dass viele dieser Menschen depressiv sind, die sich selbst töten. Depression ist eine Krankheit. Eine Krankheit kann man heilen.

Verändert diese Hilfe die Einstellung bei den Betroffenen?

Müntefering: Ich kann mich an eine Frau im Rollstuhl erinnern, die mir erzählte, sie habe vor Jahren sterben wollen. Ich habe Leute gefunden, die haben mir Mut gemacht, sagte sie mir. Sie wolle leben. Natürlich haben die, die schwer erkrankt sind, graue und schwarze Tage und manchmal auch wieder hellere. Das weiß ich auch.

Woher kommt Ihr starkes Engagement für das Thema?

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Müntefering: Es sind nicht nur persönliche Erfahrungen. Als Minister in Nordrhein-Westfalen habe ich einige Hospize eröffnet. Deren Zweck zu vermitteln, war damals schwierig. Heute muss man sagen: Das sind keine Häuser, in die wir Leute schicken, damit sie sterben. Es sind Häuser, die auf der letzten Strecke helfen. Dort aufgenommen zu werden ist gut. Man hat für die Patienten Zeit, weil für die Versorgung auch Geld aus der Krankenversicherung fließt. Probleme sehe ich eher bei Altenheimen, die nur aus der Pflegeversicherung finanziert werden. 40 Prozent der Menschen sterben dort, obwohl Heime auf der letzten Strecke nicht immer größte Qualität anbieten können. Die spezialisierte ambulante Palliativbetreuung muss dort hineingeholt werden.

Wie empfinden Sie die gesellschaftliche Debatte darüber?

Müntefering: Als angemessen. Aber sie darf nicht auf die Hilfe zur Selbsttötung reduziert sein. Wichtigere Fragen sind doch: Haben wir genug Pflegepersonal? Müssen wir was bei der Pflegeversicherung tun? Was ist Menschen zu sagen, wenn sie zu Hause bleiben möchten, und Menschen aus anderen Kulturen, die bei uns leben? Ich höre, in Berlin ist man dabei, eine große Zahl von Beratungsstellen für Demenzkranke einzurichten, über 1200. Die 450 Pflegestützpunkte müssen auch ausgebaut werden. Das Ruhrgebiet ist da schon gut. Wo nicht, sollten Bürgermeister und Räte Druck machen.

Darf die Diskussion abgleiten in eine Debatte über Kosten und Geld?

Müntefering: Die beiden letzten Lebensjahre sind teuer. Ich kenne die Fragen bei vielen alten Leuten: Bin ich noch nutze? Kostet das nicht alles zu viel? Bleibt den Kindern das Haus? Da muss die Gesellschaft deutlich machen: Ihr solltet kein schlechtes Gewissen haben! Ihr gehört dazu! Der würdige Umgang mit Sterbenden, der darf nicht am Geld scheitern.

Sie sagen, die beste Sterbehilfe ist es, für unheilbar Kranke ein begleitetes, natürliches Sterben ohne große Schmerzen zu ermöglichen?

Müntefering: Ja. Ich weiß, viele Befürworter einer aktiven Sterbehilfe wie der frühere ARD-Intendant Udo Reiter, der sich kürzlich erschossen hat, argumentieren mit der Selbstbestimmung. Für sie heißt Selbstbestimmung, dass jeder jederzeit entscheiden kann, zu sterben. Man braucht dafür – etwas zynisch gesagt – nur einen Todescocktail, finanziert von der Krankenkasse, mit dem man schön einschläft und stirbt. Ich habe Reiter gesagt: Was ist denn, wenn ihr 17-jähriger Enkel mit Liebeskummer kommt und sagt, ich möchte diesen Cocktail? Und - generell - aus Angst vor dem Sterben das Altern zu kappen - nein, das ist für mich keine Selbstbestimmung. Das ist ein Bruch der Kultur und des Selbstverständnisses vom Leben.

Der Bundestag wird solche Argumente wägen müssen, wenn er über den Rechtsrahmen entscheidet.

Müntefering: Ich kann mir nicht vorstellen, was der Gesetzgeber in ein solches Gesetz, das die aktive Sterbehilfe zum Beispiel durch einen Arzt regeln soll, hineinschreiben soll. Der erste Vorschlag, der da ist, heißt: Es darf nur eine „begrenzte Lebenserwartung“ da sein. Sind das drei Tage oder drei Jahre? Ist die Diagnose Demenz oder Krebs eine, bei der man sagt, der darf ? Ist das Alter ein Maßstab? Die Ankündigung eines Suizids. Ist das alles einklagbar?

Was sollte im Gesetz stehen?

Müntefering: Der Bundestag muss das in aller Tiefe und Konsequenz beraten. Ich selbst befürworte keine Lockerung des derzeitigen Rechts. Ich sehe auch noch keine Richtung, der ich zustimmen könnte – mit Ausnahme des Verbots der Sterbehilfe-Organisationen. Zu beschließen, für welchen Menschen welche Sterbe­regeln gelten sollen, für welche nicht? Das ist nicht nur eine Zumutung für die Abgeordneten. Es ist keine Sache für den Gesetzgeber.