Warum der ESC-Sieg von Conchita Wurst eigentlich nicht überrascht
•
Lesezeit: 5 Minuten
Kopenhagen. . Conchitas Sieg ist für Österreich alles andere als Wurst. Die Alpenrepublik hat nach 48 Jahren endlich wieder den Gipfel von Schlager-Europa erreicht. Über den Sieg des schrillen Bond-Girls mit dem Vollbart freute sich aber auch noch eine andere Gruppe.
Hätte nur noch gefehlt, dass jemand gerufen hätte „I werd’ narrisch!“ . So wie es „Edi“ Finger einst bei der Fußball-WM tat, als Österreich gegen Deutschland siegte. Obwohl diesmal ja nicht gekickt wurde, sondern gesungen. Trotzdem ist wieder von „einer Sensation“ die Rede. Und von einem „Statement für Toleranz“. Nicht nur weil die Alpenrepublik erstmals seit 48 Jahren den Eurovision Song Contest gewonnen hat. Sondern weil sie es mit jemandem gewonnen hat, der sich Conchita Wurst nennt und Lippenstift zum Vollbart trägt. Dabei ist dieser Sieg bei genauerem Hinsehen gar nicht so überraschend.
Conchita Wurst ist natürlich keine Frau mit Bartwuchs. Sie ist eine Kunstfigur, geschaffen von einem 25-jährigen Mann, der im echten Leben Thomas Neuwirth heißt, bekennender Homosexueller ist und im steirischen Bad Mitterndorf aufwuchs. Und der seit Jahren vor allem eines will: bekannt werden.
"Weil es eben 'wurst' ist, woher man kommt und wie man aussieht"
Es besucht erfolgreich die Modeschule in Graz, sucht aber immer wieder die große Bühne. Noch unter seinem richtigen Namen nimmt er in Österreich an Casting-Shows teil und gründet eine Boyband: Als das nicht den gewünschten Erfolg hat, greift Neuwirth zu High Heels, engen Kleidern und Langhaarperücke und lässt die Bartstoppel wachsen. Er wird zur bärtigen Dragqueen vom Lande, zu Conchita Wurst. „Weil es eben ‚wurst‘ ist, woher man kommt und wie man aussieht“, erklärt er seinen eigenwilligen Nachnamen, der Wortspiele geradezu herausfordert. Er will polarisieren, provozieren, im Gespräch bleiben.
Als Wurst lacht er in jede Kamera, verarbeitet für ORF-Reihe „Die härtesten Jobs Österreichs“ Fische und nimmt unter anderem an der „Dschungelcamp“-Variante „Wild Girls“ teil, für die ihn viele der Medien, die ihn nun hochleben lassen verspotten und verreißen.
Aber Neuwirth glaubt an sich. Er bewirbt sich beim österreichischen Fernsehen als Teilnehmer für den ESC 2014. Dort stimmt man zu. Auch weil man nichts zu verlieren hat. Seit Udo Jürgens 1966 mit „Merci Chérie“ siegte, hat man nicht mehr viele erreicht beim europäischen Gesangswettbewerb, mehrere Jahre wegen Erfolglosigkeit auf die Teilnahme sogar komplett verzichtet. Warum also 2014 nicht einen wie Conchita Wurst nach Kopenhagen schicken.
ESC ist seit Jahren ein Pflaster für Bizarres
Zumal sie wohl wissen in Wien, was viele Jubler nach dem Sieg übersehen. Der ESC ist seit Jahren ein gutes Pflaster für ungewöhnliche Auftritte und skurrile Künstler. 2006 gewinnen als Monster und Zombies maskierte Hard-Rocker namens Lordi, vor zwei Jahren hätten um ein Haar ein paar russische Großmütter gesiegt. Und die konnten nicht mal besonders gut singen.
Conchita für Österreich
1/17
Wurst kann es. Und sie hat ein Lied, dass ihr auf den Leib geschnitten ist. „Rise like a Phoenix“ heißt es; es klingt stark nach James Bond. Es gibt vielleicht bessere Stimmen beim diesjährigen ESC, stärkere Songs, aufwendigere Darbietungen. Aber Wurst bietet – wie Dieter Bohlen es nennt – das beste Gesamtpaket. Weil sie schwul oder obwohl sie schwul ist – kommt auf die Sichtweise an. Jedenfalls bekommt sie am Ende fast von jeder Jury Punkte. Ja, selbst aus Russland und gibt es fünf, obwohl das dortige Fernsehen alles versucht hatte, den österreichischen Beitrag aus der Wettbewerb zu verbannen.
Bei jedem Punkt Pfiffe für Russland
Überhaupt hat Putin sein TV-Volk an diesem Abend nicht im Griff. Natürlich schieben sich viele der ehemaligen Sowjetstaaten die Punkte wieder gegenseitig zu, genau wie die Skandinavier und Balkan-Länder das auch immer machen. Aber dass Russland der aufmüpfigen Ukraine immerhin sieben Punkte gibt, dass wird Putin nicht besonders gefallen haben. Wohingegen nicht anzunehmen ist, dass der Kreml seine Außenpolitik ändern wird, weil es in Kopenhagen bei jedem Punkt für Russland Pfiffe gibt.
Am Ende siegt Wurst mit 290 Punkten überlegen vor den starken Niederländern und Schweden. Und als Wurst noch einmal vom Phönix aus der Asche singt, da ist nicht mehr viel zu spüren von der stets den Tränen nahen Drama-Queen. Da ist sie Vollprofi, stolz und glücklich dort zu stehen, wo sie ihrer Meinung nach hingehört. Zum Abschied reckt sie unter Tränen die Faust: „We are unstoppable!“, ruft sie zur Freude vieler Schwulen und Lesben. Im Kreml dürften die Fernseher da allerdings bereits abgeschaltet gewesen sein.
Sie haben vermutlich einen Ad-Blocker aktiviert. Aus diesem Grund können die Funktionen des Podcast-Players eingeschränkt sein. Bitte deaktivieren Sie den Ad-Blocker,
um den Podcast hören zu können.