Essen. Conchita Wurst aus Österreich gewinnt den Eurovision Song Contest, ganz Europa ist im Bart-Fieber. Während bei der deutschen Show alle alles toll finden, bleibt in Kopenhagen vieles rätselhaft. Was solltel der Trachten-Auftritt aus Polen? Und warum gibt es den Grand Prix eigentlich immer noch?
Der 59. Eurovision Song Contest, früher einmal Grand Prix Eurovision de la Chanson genannt, ist zu Ende. Es gibt einen Sieger, beziehungsweise eine Siegerin, und Europa ist in Aufruhr. Menschen, die eigentlich weder für ihre Vorliebe für Glitzerfummel noch für ihre Sentimentalität bekannt sind, erklären auf Twitter, dass sie „stolz auf Europa“ sind. Wegen dieses Abends.
Was los ist? 26 Staaten haben jeweils einen Song auf einer überdimensionierten Bühne in Kopenhagen vorgestellt, die musikalische Qualität bewegte sich irgendwo zwischen unbezahltem Auftritt beim 69. Geburtstag von Großonkel Hartmut und Platz 77 der deutschen Single-Charts. Die Lightshow dazu war bombastisch, das Timing perfekt, die Musiker freundlich zueinander. Am Ende gewann Conchita Wurst, eine 25-jährige Drag-Queen aus Österreich, die nicht nur ein Mann in Frauenkleidern ist, sondern ein bärtiger Mann in Frauenkleidern.
"Schwulenpolitisch ein großer Erfolg"
Ein starkes Zeichen gegen Homophobie, für Toleranz, der politischste Grand Prix aller Zeiten – so wird der Sieg von Conchita Wurst, die mit „Rise Like A Phoenix“ eine klassische Popballade im Celine-Dion-Look vortrug, gelesen. Dragqueen Olivia Jones erklärte nach der Show Barbara Schöneberger, dies sei „schwulenpolitisch ein großer Erfolg“, besonders da der Eurovision Song Contest (ESC) „ohne Schwule und Lesben gar nicht möglich wäre.“
Das kann gut sein, Olivia Jones kennt sich möglicherweise sehr gut aus beim ESC und weiß so etwas. Ein normaler Zuschauer dagegen, der sich tatsächlich das Musikprogramm der Europäischen Rundfunkunion ansieht, hat an diesem Abend nur eine einzige Möglichkeit: Verzweifeln. Das, was der Grand Prix bietet, hat mit Unterhaltung nicht einmal entfernt etwas zu tun.
Bunt gekleidet und mit Bart
Frankreich zum Beispiel schickt eine Gruppe bunt gekleideter junger Männer, die etwas über den „Moustache“ singen, diesen Bart also, den sich vor drei Jahren Teenie-Mädchen ins Gesicht klebten. Das soll vermutlich irgendwie hip sein (die Musiker tragen lange Bärte) und geht jedem, der es mit ansehen – und hören muss, nach spätestens 15 Sekunden so sehr auf die Nerven, dass die jungen Herren vermutlich von Gewaltdrohungen überhäuft wurden.
Was natürlich unfair ist, denn die so bescheuert aussehenden Franzosen sind total nett, wie eine kleine Sequenz in der Anruferpause beweist. Da werden sie nämlich von der viel zu dünnen dänischen Moderatorin mit Essen von einem Asia-Imbiss in Paris überrascht. Dieser sei ihr Lieblingsimbiss, verkündet die Dänin strahlend. Dass die Buntgekleideten ihren Lieblingsimbiss auf dem Foto nicht erkennen, geschenkt, die Britin Molly hat davor ihre Lieblingstorte geschenkt bekommen und auch nicht erkannt. Sie freuen sich trotzdem sehr. Die dänische Moderatorin sagt, sie habe die Torte vorher probiert, „sehr lecker“. Die Torte ist unberührt. Es ist rätselhaft.
Und die Fragen hören nicht auf.
Was macht die Polin da mit dem Butterfass?
Warum zum Beispiel haben die Vertreter Polens (viele junge blonde Frauen in stark abgewandelter slawischer Tracht) ein Butterfass und einen Waschtrog dabei? Aus welchem Grund schiebt die Butterstampferin den Butterstampfstock so leidenschaftlich zwischen ihren Brüsten hin und her? Lag da tatsächlich Stroh auf der Bühne?
„Wer den ESC schaut, tut das wegen dem Trash“, twittert Stefan, der vom Sofa aus zuschaut. Man will also Peinlichkeit und schräge Typen, am besten etwas, wozu man gut Sekt trinken kann. Aufwendige Zirkusnummern mit menschlichem Hamsterrad (Ukraine), waghalsige Trapezkünstlerinnen (Aserbaidschan), Bum-Bum-Partymusik wie aus Griechenland. Dazwischen Seltsames wie der Auftritt Italiens im Cäsar-Look oder Pompöses, wie es Ruth Lorenzo für Spanien geboten hat. „Trotzdem: Dies Mal war es irgendwie ziemlich langweilig“, räumt der Student ein – und überlegt dann, ob es nicht vielleicht jedes Mal so ist und er es nur über das Jahr vergisst.
Warum wird der Brauch immer noch zelebriert?
Bei 26 Auftritten kann irgendwann auch die krasseste Licht-und-Wassershow nicht mehr mitreißen. Langeweile macht sich breit, vor dem Fernseher, wie auf Twitter, wo die Zuschauer versuchen, all das Rätselhafte, Bekloppte, Sinnlose, was sich da im Fernsehen abspielt, miteinander zu ordnen. Dass das schwierig werden dürfte, zeigen die Auftritte der dänischen Moderatoren, die zwar recht humorvoll durch ein Quatschkopf-Liedchen namens „12“ stolpern oder sich in einem hoffentlich erfundenen ESC-Museum umtun, Kinder erschrecken. Sie wissen wohl auch nicht so genau, weshalb dieser fast 60 Jahre alte Brauch immer noch zelebriert wird. Völkerverständigung? Die Lichtshow-Industrie? Sie müssen da nun mal durch, und wenn das so ist, wollen sie wenigstens ein bisschen etwas zu lachen haben.
Was noch? Ralph Siegel saß wieder an einem Klavier. Vor ihm stand eine Frau, die im Verhältnis zu ihm jung aussah, vor einer riesigen Muschel und sang.
Russland hatte Zwillinge gesandt, blond, 17 Jahre alt, die an den Haaren zusammengebunden waren und jedes Mal ausgebuht wurden, wenn der Name ihres Heimtlandes fiel.
Alle fanden alles toll
In Hamburg, wo die deutsche ESC-Party stattfand, wurde Moderatorin Barbara Schöneberger derweil so nass geregnet, dass sie nichts Trockenes mehr zum Anziehen hatte. Dann trat sie plötzlich mit Vollbart auf, um Conchita Wurst die Ehre zu erweisen, sprach mit Helene Fischer, Sido, Adel Tawil und vielen anderen Künstlern über diesen Erfolg, den alle gut fanden.
Elaiza, die für Deutschland angetreten waren und Platz 18 erreicht hatten, wurden zugeschaltet. Die drei Frauen dankten für die „tollen Erfahrungen“, die sie „hier auf dieser tollen Bühne“ hatten machen dürfen. Barbara Schöneberger sagte, dass sie das toll gemacht hätten. Journalist Jan Feddersen wird ebenfalls aus Kopenhagen eingeblendet. Ihm hatte an diesem Abend „alles einfach toll gefallen, alle waren toll“. Besonders aber die Siegerin Conchita Wurst, „eine wunderbare Interpretin, sie hat uns hat alles gegeben, sie hat geweint, das war toll. Sie ist zu Boden gegangen vor lauter Ergreifung.“
Ein Kleid wie eine Folienkartoffel
Zum Schluss ging Barbara Schöneberger auf die Bühne, sie trug ein silbernes Kleid, mit dem sie Olivia Jones zuvor als „Folienkartoffel“ bezeichnet hatte und sang ein Lied über den Oliba, Oberlippenbart. Im Hintergrund leuchtete Conchita Wursts Gesichts von der Leinwand, es hatte aufgehört zu regnen.