Wolfenbüttel. Nicht nur in NRW werden Mediziner im ländlichen Raum knapp. Auch in Niedersachsen fehlen Ärzte in der Provinz. In Wolfenbüttel und Umgebung findet jetzt ein Pilotprojekt statt: Die Patienten müssen nicht mehr zum Doc, der Doc kommt vielmehr zu den Kranken.
Als Adelheid Fels die Praxis betritt, wackelt der Boden. Der Doktor hilft ihr die zwei Stufen hoch in den Wagen, er hält ihren Arm und bugsiert die 85-Jährige behutsam in den Behandlungsraum auf vier Rädern. Er ist nur wenige Quadratmeter groß, gleich neben der Tür steht die Patientenliege, angrenzend zur Fahrerkabine gibt es einen kleinen Schreibtisch mit Computer – Blutdruckmesser, EKG oder Laborgerät sind ebenfalls an Bord; die Medikamente sorgsam in Schränken verstaut.
Adelheid Fels setzt sich auf den Stuhl neben dem Schreibtisch. „Meinen Rolls-Royce habe ich draußen geparkt“, sagt sie mit einem Lächeln und deutet mit dem Kopf auf ihre Gehhilfe vor der Tür. Dr. Jürgen Bohlemann lacht. „Da steht er gut“, sagt er. „Also, dann wollen wir mal.“ Mit einem Ruck zieht er die Tür des VW-Crafters ins Schloss, Arzt und Patientin sind unter sich.
Es ist ein trüber Herbstvormittag, die Kirchturmuhr hat gerade zehn Mal geschlagen. Gelbe Blätter liegen auf dem Pflaster vor dem Schützenhaus, wo Bohlemann mit seiner rollenden Praxis Station macht. Seit einer Stunde hält er Sprechstunde in Winnigstedt, einem 770-Einwohner-Dorf im Kreis Wolfenbüttel; Adelheid Fels ist seine dritte Patientin; der erste stand schon kurz nach 9 Uhr vor der Tür. Es läuft einigermaßen gut an diesem Morgen.
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Mobile Arztpraxis wird bis Ende 2014 getestet
Vor zwei Monaten fiel der Startschuss für die mobile Arztpraxis – ein Projekt, das bundesweit bislang einmalig ist und bis Ende 2014 getestet wird. Die Idee: Wenn es immer weniger Ärzte auf dem Land gibt, müssen flexible Modelle her, um noch alle Patienten versorgen zu können. Besonders ältere Menschen, die nicht mehr mobil sind und mit öffentlichen Verkehrsmitteln kaum noch zum Arzt kommen, sollen Hilfe bekommen.
Seitdem rollt die Praxis zweimal in der Woche über die Straßen des Landkreises und fährt jeweils eine von sechs Gemeinden an, immer dienstags und donnerstags. Zwei angestellte Ärzte der Kassenärztlichen Vereinigung in Braunschweig teilen sich die Touren auf. „Ich bin froh, dass es wieder dieses Angebot in Winnigstedt gibt“, sagt Adelheid Fels. „Früher musste ich immer mit dem Taxi nach Schöppenstedt fahren, wenn ich zum Arzt musste.“ Das war umständlich – und vor allem teuer.
Froh ist auch Bürgermeister Kurt Alpers, der sich sehr für die rollende Arztpraxis stark gemacht hat und nun im Schützenhaus sitzt, um mit den Patienten zu plaudern. „Seit acht Jahren gibt es keinen Arzt mehr in Winnigstedt; ein Nachfolger für die Praxis war nicht zu finden“, sagt er. „Wir haben Annoncen geschaltet, bundesweit. Wir haben Zugeständnisse gemacht. Die Gemeinde hat sogar ein kostenloses Baugrundstück angeboten – der Erfolg war gleich null.“
Alle drei Wochen schließt Alpers nun morgens den Saal auf und schiebt die Tische zurecht; das Schützenhaus wird zum Wartezimmer. Schulsekretärin Dagmar Kasten bringt Kaffee und Kekse für den Doktor, denn mitunter muss auch der 62-Jährige Wartezeiten überbrücken. Mehr als fünf Patienten an einem Vormittag hat es in Winnigstedt bislang nicht gegeben. In Roklum und Hedeper waren kaum Patienten da, erzählt Bohlemann, in diesen Dörfern fährt noch ein Bus nach Wolfenbüttel; im nahe gelegenen Remlingen gibt es eine Hausärztin, die Patienten aus dem Umland behandelt.
Unterstützung für die Hausärzte
In Cramme, Flöthe und Dahlum läuft es besser, da sind zehn Patienten morgens gekommen. „Das ist so das Maximum, das man noch ohne Probleme bewältigen kann“, sagt Bohlemann. Der mobile Arzt, der einst acht Jahre lang eine Praxis in Herten im Ruhrgebiet führte, muss schließlich alles machen – Patientendaten eingeben, untersuchen, beraten, Rezepte ausstellen oder Arztbriefe schreiben; er ist Doktor, Fahrer und Helfer.
Ein Handicap ist auch, dass nicht alle Kassen beim Projekt mitmachen. Auch von den niedergelassenen Ärzten gab es Widerstand. Ursprünglich war geplant, die Mediziner zusätzlich bei Hausbesuchen zu entlasten. „Doch da ist nichts gekommen“, sagt Bohlemann. „Dabei sehen wir uns nicht als Konkurrenz zu den Hausärzten, sondern als Unterstützung.“