London. . 1875 durchquerte der erste Brite den Ärmelkanal von Dover nach Frankreich. Seither haben nur 340 Frauen die Distanz im Wasser überwunden. Die britische Archäologin Sarah Tunnicliffe ist eine von ihnen. Im Interview erklärt sie, wie ihr das Abenteuer gelang.

Er ist seit fast 140 Jahren der Mount Everest für Schwimmverrückte: Der Ärmelkanal lockt jeden Sommer Dutzende gestählte Abenteurer, die Tiden und Tankern trotzen und bei Dover in die kalten Fluten springen. 33 Kilometer Luftlinie bis Frankreich liegen dann vor ihnen. Die meisten erreichen den geweihten Boden auf der anderen Seite des Wassers nicht: Der Kanal ist fast immer stärker, oft auf tragische Weise.

Die britische Archäologin Sarah Tunnicliffe (38) hat den Badekappen-Marathon unlängst gemeistert. Sie war die 35. Person, die dieses Jahr erfolgreich die französische Küste erreicht hat. Seitdem der erste Brite 1875 den Kanal durchquert hat, haben nur 340 Frauen die Distanz im Wasser überwunden. Jasmin Fischer sprach mit ihr.

Quallen, Frachtschiffe, Strömung, Wetterkapriolen – kann man für so unwägbares Gelände wie den Ärmelkanal überhaupt trainieren?

Sarah Tunnicliffe: Ich habe zwei Jahre lang trainiert, sechs Tage die Woche. Aber eine Erfolgsgarantie gibt es wirklich nicht. Abgehärtet habe ich mich im elf Grad kalten Wasser der Irischen See, die so turbulent wie eine Waschmaschine gewesen ist. In schwachen Momenten fragt man sich schon, ob man eigentlich verrückt ist.

Bitte erklären Sie’s uns Warmduschern: Wie überlebt man sechzehn Stunden fünfunddreißig Minuten in fünfzehn Grad kaltem Wasser?

Tunnicliffe: Schwimmen, schwimmen, schwimmen! Natürlich müssen Sie den Körper vorher an die Temperaturen gewöhnen, aber wenn Sie sich bewegen, wird Ihnen nicht kalt. Neben Schwimmtraining habe ich im Fitnessstudio meine Muskeln gestärkt. Alkohol habe ich ganz aufgegeben. Und die Crew im Beiboot ist wichtig: Sie achtet auf die Sicherheit, hat mir jede Stunde Flüssignahrung per Schlauch ins Wasser gereicht. Ich hatte nie die Gesamtstrecke vor Augen, sondern immer nur die nächste Mahlzeit.

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Tunnicliffe: Das wärmt so wenig wie die Badekappe, die Sie tragen. Fett hilft aber gegen die Abschürfungen durch das Salzwasser.

Was, wenn man unterwegs mal muss?

Tunnicliffe: Sie müssen sogar müssen! Der Körper soll Urin ausscheiden, um bei der Belastung funktionstüchtig zu bleiben. Ab ins Wasser damit! Bei größeren Sachen müssen Sie den Badeanzug kurz zur Seite ziehen und die Crew im Beiboot sollte sich umdrehen.

Themenwechsel: Was war Ihr letzter Gedanke, bevor Sie am Strand in England ins Wasser gewatet sind?

Tunnicliffe: Es war ja viertel vor vier morgens, stockfinster, dann ist die Sonne spektakulär aufgegangen. Es war wie ein Film, der vor mir ablief. Sie sehen Frachtschiffe am Horizont, wunderschöne Quallen im Wasser . . .

. . . und doch ist eine Ärmelkanal-Querung alles andere als ein idyllischer Spaziergang. Zwei Wochen vor Ihrem Start ist eine 34-jährige Britin dabei gestorben.

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Tunnicliffe: Das war furchtbar. Ich habe danach mit der Crew auf dem Beiboot genaue Zeichen festgelegt, woran sie erkennen, dass es mir nicht mehr gut geht. Doch auch ohne tragische Zwischenfälle erreichen viele die andere Seite nicht. Letztes Jahr ist nur Hunderte Meter vor der französischen Küste Nebel aufgezogen – die Schwimmer mussten aufhören. Und das nach all der Anstrengung. Ich wurde auch beinahe disqualifiziert, weil ein französischer Fischer mir am Ufer die Hand reichen wollte. Solche Hilfsgesten sind verboten.

Was hat Ihnen alles wehgetan, als Sie ans Ufer kamen?

Tunnicliffe: Arme und Schultern konnte ich zum Jubeln jedenfalls nicht mehr bewegen. Zwei Tage lang hatte ich starke Schmerzen. Aber die Erfahrung war jedes einzelne Autsch wert: Im Alltag lernen Sie ja nichts über Ihre eigenen Grenzen.