Washington. . Der „Engel mit den Eisaugen“ hat sein Schweigen gebrochen. Amanda Knox gab dem amerikanischen TV-Sender ABC ein Interview und veröffentlichte ein Buch. Viel Neues über die junge Frau, die wegen Mordes erst verurteilt und dann freigesprochen wurde, erfährt man trotzdem nicht.
Dem Klappentext des mit vier Millionen Dollar bevorschussten Buches von Amanda Knox hätte ein Hinweis gut getan: Wer einen spannungsgeladenen Doku-Thriller erwartet, sollte zu einem anderen Werk greifen. Wer auf Enthüllungen hofft, wird bitter enttäuscht. Wer wissen will, wer wirklich im Herbst 2007 die britische Austauschstudentin Meredith Kercher im italienischen Perugia getötet hat, ist hier völlig falsch. „Waiting to Be Heard“, in Deutschland just unter dem Titel „Zeit, gehört zu werden“ erschienen, bringt kein Licht in das Dunkel um einen spektakulären Mordfall, der ein transatlantisches Publikum zwischen Seattle und Umbrien seit Jahren mit einer kruden Mischung aus Ekel und Neugier in Atem hält.
Auch das um das Erscheinungsdatum drapierte erste Fernseh-Interview, das am Dienstagabend einige Millionen den Sender ABC einschalten ließ, ändert an dem bekannten Befund nichts: Wer die junge Amerikanerin (25) bislang als berechnend, kaltblütig und verschlagen empfand, findet Bestätigung. Jene, die an das unschuldige Justizopfer glauben, auch.
Seelische Schnittwunden
Die Vorgeschichte: Knox studierte in Italien, als ihre Mitbewohnerin bestialisch ermordet aufgefunden wird. Die Ermittler gehen einer schlagzeilenträchtigen Spur nach: Ist ein unter Drogen-Einfluss gestartetes Sex-Spiel zu dritt ausgeartet? Knox und ihr damaliger Kurzzeit-Liebhaber Raffaele Sollecito beteuern ihre Unschuld, werden 2009 nach einem Indizienprozess aber zu über 25 Jahren Haft verurteilt. In einem separaten Verfahren bekommt der Schwarz-Afrikaner Rudy Guede wegen Beihilfe zum Mord 16 Jahre Haft.
Der Fall Amanda Knox
2011 die Wende. Weil die Verteidiger von Amanda Knox Schwachstellen aufdecken, etwa beim genetischen Fingerabdruck, spricht das Gericht in Perugia Knox und Sollecito wieder frei; sehr zum Leidwesen der Angehörigen von Meredith Kercher. Vor wenigen Wochen kippte das oberste italienische Gericht den Freispruch. Der Prozess wird neu aufgerollt.
Im Fernseh-Interview bemühte Knox dazu ein unter die Haut gehendes Bild. Verdacht. Verhaftung. Prozess. Urteil. 1427 Tage Gefängnis. Freispruch – „das war, wie durch ein Feld aus Stacheldraht zu kriechen“. Nach kurzer Zeit mit Licht am Horizont liege ein zweites Feld vor ihr. Neue seelische Schnittwunden programmiert.
Die alten zu schildern, ist Knox auf 460 in anstrengendem Stundenprotokoll-Tempo gehaltenen Seiten ein Hauptanliegen. Der „Engel mit den Eisaugen“, den die erbarmungslosen britischen Boulevard-Medien aus ihr gemacht haben, soll abgetaut werden. Was der Leser abseits aller banalen Nebensächlichkeiten und sexuellen Erweckungserlebnisse dargeboten bekommt, ist ein kafkaesker Albtraum aus Einschüchterungen, körperlichen Züchtigungen, Verhören, in denen offen sexuelle Gewalt ausgeübt wird, und erzwungenen Geständnissen.
Schriftsteller John Guare:„Sie ist eine komplette Leerstelle“
Knox ist in ihrem Buch Opfer. Zu hundert Prozent. Die Täter: das als schlampend und stümpernd dargestellte italienische Justizsystem. Eigene Fehler, die an den Haaren herbeigezogene Verleumdung des Schwarz-Afrikaners Patrick Lumumba als Täter, die mehrfach korrigierte Darstellung ihres Alibis, die Abwesenheit von Trauer und Mitgefühl für deren Eltern – alles Resultat des unmenschlichen Drucks, den der archaische Justizapparat auf sie ausgeübt habe.
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Selbstkritik bei Knox, mühsam herausgekitzelt von Diane Sawyer, hört sich so an: „Ich hätte sensibler sein können.“ Die erfahrene Star-Interviewerin bemühte sich immer wieder, hinter die Maske der Frau zu schauen, deren Mimik im Sekundenabstand beides zugleich kann: höchste Verletzlichkeit ausdrücken – und totale Kontrolle. Der von ihr ebenso faszinierte wie abgestoßene US-Schriftsteller John Guare hat einmal über Amanda Knox geschrieben: „Sie ist eine komplette Leerstelle. Man kann alles in sie hineinprojizieren.“
Wenn in einigen Monaten der Prozess gegen sie in Florenz neu aufgerollt wird, muss Amanda Knox nicht teilnehmen. Vielleicht wird sie aus Seattle das Geschehen verfolgen und ihre Gedanken wieder zu Papier bringen. Sie studiert „kreatives Schreiben“.