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Wenn es um Zwangsheirat geht, dann sind sich Islamkritiker wie gläubige Islamexperten einig: Es ist ein Verbrechen, das vom Staat bekämpft werden muss. Doch während die Publizistin Necla Kelek die Ursache für die starke Unterdrückung von türkischen Mädchen, die in Zwangsheirat und Ehrenmord gipfele, in der Weltanschauung rund um den Islam sieht, trennen religiös motivierte Vertreter fein zwischen Kultur, Tradition und Religion.
Zum Beispiel Lamya Kaddor, Islamwissenschaftlerin und Lehrerin in Dinslaken für Islamkunde in deutscher Sprache. „Menschen, die ihre Kinder zwangsverheiraten, leben gar nicht unbedingt fromm, sondern vor allem traditionell“, sagt sie. Selbst bei einer fundamentalistischen Auslegung des Korans könne man nur zu dem Schluss kommen, dass auch eine Frau immer in eine Ehe einwilligen müsse, „sonst kann die Ehe nicht geschlossen werden“. Die Expertin räumt zwar ein, dass Mädchen aus dem islamischen Kulturkreis es häufig schwerer haben als gleichaltrige, nicht-muslimische Mädchen, dass sie erzogen würden, um im Haushalt zu helfen, und nicht, um erfolgreich im Beruf zu sein. „Aber auch das hat mit Kultur zu tun und nicht mit Religion.“
Moralvorstellungen verwässert
Yunus Ulusoy vom Zentrum für Türkeistudien in Essen nennt dies einen „traditionellen Lebensstil“, mit dem Eltern ihre Kinder bisweilen bevormundeten. Vor allem in den sozial eher schwachen Schichten komme dies vor. „Sie haben Angst, dass durch Schule und Mitschüler die eigenen Moralvorstellungen verwässert werden“ – zum Beispiel durch frühe Sexualkontakte. Wenn die Sorge aber in eine erzwungene Ehe führe, die einen Partner aus dem eigenen Kulturkreis garantiere, „darf ein derartiger Zwang nicht toleriert werden“.
Die Islamkritikerin Necla Kelek spricht hingegen von der Kultur des Islam, von einer gesellschaftlichen Dimension einer Weltanschauung, die viele Sitten und Gebräuche der „Stammesgesellschaft“ übernommen habe. Diese Kultur habe den „Zwang zur Ehe“ und das Recht, seine „Ehre zur verteidigen“ zur „gottgefälligen Tradition“ erklärt. Während Islamexpertin und Konvertitin Gabriele Boos-Niazy betont, in religiös lebenden Familien gebe es keine Zwangsheirat, sieht Kelek das Phänomen durch den Islam legitimiert.
Der Bruder kontrolliert die Schwester
Die Folge: „Da hat der Bruder das Recht, seine Schwester zu kontrollieren und die Eltern suchen die Ehepartner der Kinder aus, weil es um das Wohl des Clans geht und nicht um das Glück des Kindes.“ Selbst fortschrittliche Eltern würden dem sozialen Druck nicht standhalten, sagt Kelek, „sie verlieren Ansehen in der Gemeinde, wenn sie keine Kontrolle über ihre Frauen haben“ und ihre erwachsenen Töchter unverheiratet sind.
Immerhin: Die Zahl der Familien, die ihre Töchter zum Studieren schicken, wachse, lobt Kelek. Aber auch die Zahl der „Scharia-Muslime“, die ihre Töchter drängen, Kopftuch zu tragen und im Haus zu bleiben.