Essen. Heute wird's richtig schmutzig in Lilos Leben. Nein, nicht was Sie jetzt denken. Es geht um Abwasch - oder richtiger: sein Gegenteil. Ein Bericht von Grenzerfahrungen zwischen puscheligem Blauschimmel und lautstarkem Wutausbruch.

Das letzte Vierteljahr habe ich in einem anarchischen Mikrokosmos verbracht. Meine neue Wohngemeinschaft lehnt das Konzept „Putzplan“ nämlich als spießig ab. Das favorisierte Modell sieht stattdessen eine feste Aufgabenverteilung und selbstständige Erledigung häuslicher Pflichten vor. Die feste Aufgabenteilung ließ sich umsetzten, bei der Pflichterfüllung wurde es schwierig. Die Küche starrt vor Dreck. Und immer bleibt Geschirr übrig, das niemand dreckig gemacht hat.

Hindernislauf durch den Küchenmüll

Ab und zu treffe ich in den Weiten der Müllkippe, die Wohnzimmer und Küche ersetzt hat, auf einen meiner Mitbewohner. Johannes zum Beispiel, wie er sich zwischen Topfstapeln und Tellerbergen Spiegeleier brät. Klar, dass er dafür nur einen Teller aus dem Haufen fischt und abspült. Vor der Benutzung, danach natürlich nicht noch einmal. Die Frisur sitzt, der türkisfarbene Gürtel mit den Nieten hält die Jeans an genau der Stelle fest, wo bei anderen der Bauchansatz beginnt und bei ihm das Waschbrett. Die Stimmung ist gut, das Radio läuft. „Und, alles klar?“, fragt er fröhlich und lässt den (immerhin leeren) Eierkarton unter den Küchentisch fallen.

Was soll man da sagen? Die Jungs erziehen? Nicht mein Job. Es gab Versuche zu unterhandeln. Doch die schriftliche Fixierung eines Planes wurde treuherzig zugunsten mündlicher Absprachen verworfen. Es änderte sich nichts. Der Weg durch die Küche glich mehr und mehr einem Hindernislauf. Austauschbar in diesem Szenario nur die Gestalten und ihre Tätigkeiten. Johannes mit seinen Spiegeleiern. Arndt mit der Tiefkühlpizza. Tim, der Eiweißdrinks anrührt. Und eine zunehmend zickige Lilo.

Ist Anarchie die Lösung?

Zwei, drei Mal bin ich über mich hinausgewachsen und habe abgespült. Eine Wiederholung ließ die Selbstachtung nicht zu. Ein Fall von weiblichem Ordnungssinn versus männliche Gammeligkeit? Ich war weder bereit, einzuknicken vor der Macht des Klischees noch irgendwelche stereotypen Entschuldigungen zuzulassen. Auch Tim und Arndt habe ich schließlich schon mit den Händen im Spüli-Schaum erwischt. Deren guter Wille ist allerdings mittlerweile ebenfalls erlahmt. Die Geschirrberge wuchsen stetig. Sollen Sie an ihrem Dreck erstricken, grollte ich. Doch was ist zu tun? Ich hasse Umzüge und feige wäre das auch.

Mein Bekannter Thilo hat über Anarchie promoviert – wer wäre qualifizierter, die Geschirr-Misere zu analysieren? Er ist der Ansicht, wenn man die Menschen sich selbst überließe, dann würden sie sich auf viel friedlichere und effizientere Weise organisieren. Staaten und Armeen würden überflüssig. Und auch private Beziehungen erhielten eine ganz neue Qualität.

"Korrumpiert durch das System"

Ich glaube nicht recht, dass die Geschichte Thilo und seiner Vision einer Welt ohne Machtverhältnisse Recht geben wird. Die anarchische Haushaltsführung meiner regellosen Wohngemeinschaft liefert den Gegenbeweis. Erstens geschieht dort nichts effizient, zweitens wird der Frieden von Tag zu Tag brüchiger. Der moderne Mensch verfällt spätestens in der Vierer-WG zurück in den Urzustand. Nicht mehr lange, und sie entsorgen die Abfälle über den Balkon. Oder auf den Balkon.

Für Thilo kein Argument: „Ihr seid korrumpiert durch das System“, meint er. „Die Sozialisation ist Schuld“, wenn keiner seine Krümel beiseite wische oder den Saftfleck auf dem Fußboden. Thilo empfiehlt „ein neues Bewusstsein“. Gut gemeint, aber darauf konnte ich nicht warten. Ich bin explodiert. Und ich muss sagen, es hat funktioniert. Tim, Johannes, Arndt und ich haben jetzt einen Plan. Einen spießigen, schriftlichen Putzplan. Ob er funktioniert? Ich halte Euch auf dem Laufenden.

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