Ishinomaki.

Im japanischen Ishinomaki gehen sechs Monate nach dem Tsunami die Wiederaufbauarbeiten nur langsam voran. Augenzeugen berichten, wie sie die schreckliche Naturkatastrophe erlebt haben.

Der alte Mann kennt das Meer. Tadashi Sato ist 78 Jahre alt. „65 davon war ich Fischer. Als ich am 11. März die Sirenen hörte, habe ich gespürt, was kommt. Ich habe es gerochen und gehört. Ich bin sofort zu den Nachbarn und habe alle gewarnt. Kommt mit auf den Hügel. Sie haben abgewunken. So weit sei noch nie ein Tsunami ins Land gedrungen...“ Tadashi schaut über die von Trümmern befreite Brachfläche vor ihm, zieht an seiner Zigarette. „Ich bin mit meiner Frau auf den Hügel hinauf. Die anderen sind alle tot.“ Er schweigt einen Moment. „Ich hätte mehr tun müssen. Aber warum haben sie nicht auf mich gehört...?“

Ishinomaki ist eine der am verheerendsten vom Tsunami getroffenen Städte im Norden Japans. Über 5000 Menschen starben hier in den Straßen und entlang des Flusses, der trotz seiner hohen Betonmauern dem brodelnden Wasser den Weg tief in die Stadt wies, 28 000 Häuser wurden zerstört. Und auch sechs Monate nach der Katastrophe sehen ganze Viertel so aus, als sei das Unglück erst gestern geschehen.

Japan ist aber auch ein Land, in dem die Menschen sorgsam miteinander umgehen

Akio Hoshi (44) ist aus dem Süden vor vier Wochen in die Stadt gekommen, um beim Wiederaufbau zu helfen. Jetzt lebt er nahe der Universität auf einer grünen Wiese in einem Zeltlager. Sie sind Anwälte, Zimmerer, Lehrer oder Büroleute, sie sind Freiwillige, die ihren Urlaub opfern. Vor allem säubern sie Ruinen vom Schlamm, versuchen Halbzerstörtes wieder in Gang zu bringen, bewohnbar zu machen. Akio geht zu seinem kleinen zerbeulten Suzuki: „Lass uns mal eine Stadtrundfahrt machen.“

Nahe des Fischerhafens liegen noch viele Boote an Land. Wie tote Fische. Vor allem Segeljachten, auch ein 40-Meter-Fischtrawler. Akio erklärt das Dilemma: „Entweder sind die Besitzer tot oder vermisst oder sie wollen nicht mehr. Das ist ja auch eine rechtliche Frage. Es geht um Eigentum.“ Das gilt ebenso für die Tausenden von Autos, die zu bizarren Parkhalden am Stadtrand und am großen Hafen geschichtet wurden. In Japan zeigt die Bürokratie all ihre Vor- und Nachteile.

Japan ist aber auch ein Land, in dem die Menschen sorgsam miteinander umgehen. Erst recht in Zeiten der großen Trauer. Wir parken in einem verschonten, höher gelegenen Viertel vor einer Garage, in der an Wäscheleinen Hunderte Fotos klammern, um zu trocknen. Gruppenbilder, Familienkollagen, Hochzeitsfotos, Fußballmannschaften, lachende Kinder, Momentaufnahmen des Alltags. Zuvor sind die Fotos von Helfern mit Geschick aus Alben gelöst und gereinigt worden. Alben, die neben anderen privaten Dingen im Schlamm der Ruinen oder am Meeresboden gefunden wurden.

Direkt vor der Küste steigen noch jeden Tag Hobbytaucher ins Wasser

Eine Etage höher sieht es aus wie in einem Museum. Hier werden die Bilder ebenso wie Schultaschen, Spielzeug, Souvenirs ausgestellt. Die Menschen gehen langsam daran vorbei, schauen, suchen nach verlorenen Erinnerungen.Ein älterer Mann kramt in den Bildern: „Ich hoffe auf Fotos von meinen Nachbarn, die nicht überlebt haben. Damit sie nicht vergessen sind.“

Direkt vor der Küste steigen noch jeden Tag Hobbytaucher ins Wasser. Sie suchen nach Leichen, die aber nur noch selten gefunden werden. Also bringen sie stattdessen die Erinnerungsstücke mit nach oben und in die Garage gegen das Vergessen.

Eine Einfamilienhaussiedlung nahe der Küste. Akio hat hier gearbeitet. „In diesem Haus war der Vater arbeiten, die Kinder in der Schule, als die Welle kam. Die Leiche der Mutter wurde drei Kilometer entfernt gefunden. Jetzt ist das Haus wieder bezugsfertig, aber die Kinder wollen nicht mehr hier leben. Nicht hier, wo die Mutter starb.“ Ein Beispiel von vielen.

Zwei Häuser weiter zeigt Frau Yoko an ihrem Auto, wie hoch das Wasser schon stand, wie knapp sie entkam. „Ich war einkaufen, als die Sirenen losgingen. Aber ich bin noch mal zurück, um Ken zu holen. Der dreht immer durch bei Erdbeben.“ Ken ist ein Chow-Chow. Gerade als sie am Haus ankam, kam der Tsunami die Straße hinauf. „Ich habe Vollgas gegeben. Ein Wunder, dass ich entkommen konnte.“ Sie zeigt auf ihr Haus. „Wegen Ken werde ich aber auch wieder hier wohnen müssen, obwohl mir nicht wohl dabei ist. So nah am Wasser. Aber im Containerlager akzeptieren sie keine Hunde. Was bleibt mir übrig.“

„Auch wenn ich nicht weiß, wie das Leben ohne meine Nachbarn sein wird“

An vielen Stellen in der Stadt wird emsig gearbeitet. Trotzdem wirken weite Flächen wie Parkplätze. Was hier mal stehen wird, darüber streiten bereits Politiker und Spekulanten. Nur Tadashi Sato, der alte Fischer, weiß genau, was er will. „Ab Herbst will ich wieder in meinem Haus leben.“ Er zieht noch einmal an der Zigarette und tritt sie dann aus. „Auch wenn ich nicht weiß, wie das Leben ohne meine Nachbarn sein wird.“