Washington/Los Angeles. . Wegen fahrlässiger Tötung muss sich seit Dienstag Michael Jacksons Leibarzt Dr. Conrad Murray vor Gericht verantworten. Im Prozess tritt ein gigantischer Medikamentenmissbrauch zutage. Und ein schwer krankes Arzt-Patienten-Verhältnis.

Als Bezirksstaatswalt David Walgren zusammenrechnet, was der „King of Pop“ in den zehn Wochen vor seinem Tod durch die Venen gepumpt bekommen hat, fällt im Saal des „Superior Court“ von Los Angeles vielen der Kinnladen herunter: 155 000 Milligramm Propofol - aufgelöst in 15,5 Liter - hat Hausarzt Dr. Conrad Murray demnach seinem prominentesten Patienten gegen dessen chronische Schlaflosigkeit verabreicht; ergänzt um Hunderte Pillen anderer Beruhigungsmittel.

Als der Mediziner am 25. Juni 2009 an das Nachtlager des Musikstars gerufen wurde, war Michael Jackson bereits tot. Herzversagen. Laut Autopsie starb der 50-jährige Superstar an einer Überdosis Propofol, ein Narkosemittel, das sonst nur in Operationssälen zum Einsatz kommt. Murray ist der fahrlässigen Tötung angeklagt.

Live übertragen in Millionen Wohnzimmer

Folgte man Walgren am Dienstag in seinem messerscharfen einstündigen Eröffnungs-Statement, live übertragen in Millionen Wohnzimmer, dann hat der Mann seinen Schutzbefohlenen letztlich aus Geldgier nicht nur schleichend zu Tode betäubt. Sondern auch noch jämmerlich sterben lassen. „Erst telefoniert er 25 Minuten mit einer Freundin, erst danach rief Murray den Notarzt“, berichtete der Chefankläger der aus 372 Kandidaten sorgfältig ausgesuchten zwölfköpfigen Geschworenen-Jury.

Der Auftakt der juristischen Aufarbeitung des letzten „Thrillers“ von Michael Jackson trug streckenweise gespenstische Züge. Und das nicht nur wegen noch nie gezeigter Aufnahmen vom blassen, beinahe puppenähnlichen Leichnam Jacksons. Walgren zeichnete den bis dahin als Herzspezialisten solide beleumundeten 58-Jährigen als Arzt der Unverantwortlichkeit, ja des Grauens. Wissend um die seelische Zerrissenheit Jacksons, der im Sommer vor zwei Jahren ein nach Skandalen und Krisen äußerst labiler Superstar war, der sich anschickte, es in London mit einem 50-Konzerte-Marathon seinen Kritikern noch einmal zu zeigen, machte er ihn täglich (!) mit bis zu 2000 Milligramm (!) Propofol zum Zombie seiner selbst. Ein Mittel übrigens, das als Schlafmittel gänzlich ungeeignet, ja verboten sei.

Wie schwer der Sänger vor London von Medikamenten abhängig war, illustrierte der Chefankläger der Jury, die bis Ende Oktober ein Urteil sprechen soll, anhand eines erschütternden Handy-Gespräches vom 10. Mai 2009. Der „King of Pop“ lallte darin seinem Hausarzt wie ein bewegungsunfähiger Drogenkranker im Vollrausch vor, dass die anstehende Konzert-Reihe „einfach phänomenal werden muss“. Staatsanwalt Walgren: „Murray wusste immer, in welchem Zustand Michael war.“ Der seit dem Tod seines Patienten mit Berufsverbot belegte Herzspezialist aus Texas saß in diesem Augenblich mit eingefrorener Miene neben seinen Anwälten. Jacksons Eltern Joe und Katherine sowie den Pop-Geschwistern Jermaine, Latoya, Randy und Janet, die mit im Saal waren, wurden die Augen feucht.

"Jackson wollte täglich seine 'Milch'"

Murrays Verteidiger befestigten im Anschluss die erwartete Abwehrlinie. Danach hat der Star darauf bestanden, täglich seine „Milch“, wie er das trübe Propofol nannte, zu erhalten, um in den Schlaf zu kommen und so Kraft zu schöpfen für die London-Shows. Murray habe wie gewünscht geliefert. Aber nie in tödlichen Mengen verabreicht. So sagte es sein Topverteidiger Ed Chernoff und lancierte kühl das Bild eines von Selbstzweifeln und Angst getriebenen Hochleistungs-Künstlers, der ohne chemische Stimulanz mit seiner chronischen Schlaflosigkeit nicht mehr fertig wurde. Am Ende, so Chernoff, habe der eigenmächtige und von Murray nicht autorisierte Griff zur “Milch” und die Einnahme von 16 Pillen Lorazepam, ein starkes Beruhigungsmittel, in Jacksons Körper einen “tödlichen Sturm” entfacht. Nicht einmal die Augen habe der Sänger vor seinem Herzstillstand noch schließen können.

Eine Position, die Bezirksstaatsanwalt David Walgren zertrümmern will. Er warf Murray Sorgfaltspflichtverletzungen dritten Grades vor. Weder habe er im Umgang mit Propofol ausreichende Kenntnisse besessen, noch die nötige Beobachtung des Patienten vorgenommen. Mehr noch; Murray habe den wehr- und hilflosen Jackson, vollgepumpt mit chemischen Keulen im Übermaß, am Ende sich selbst überlassen. Dazu will passen, was Jacksons Leibwächter und Hausangestellte seinerzeit der Polizei zu Protokoll gaben.

Erst nach 82 Minuten rief Murray den Notarzt an

Als Jackson bereits das Bewusstsein verloren hatte, soll der Hausarzt das Personal angewiesen haben, diverse Ampullen verschwinden zu lassen. Erst nach 82 Minuten und improvisierten Wiederbelebungsversuchen, auch mit Chemie, so steht es im Polizeiprotokoll, rief Murray den Notarzt. Dass jede Menge Propofol im Spiel war, verschwieg er seinem Kollegen. Man fand es erst später bei der Obduktion der Leiche. Für Staatsanwalt Walgren ein Indiz, dass Murray die Sache verschleiern wollte.

Warum der Doktor sich dem Drängen seines Patienten nach chemischen Problemverdrängern nicht widersetzte, liegt aus Sicht der Anklage auf der Hand. Bevor Murray in Jacksons Dienste trat, war der Arzt dem wirtschaftlichen Ruin nahe, sagte Walgren. Er konnte seine Praxen in Las Vegas und Houston nicht mehr bezahlen. Zudem saßen ihm die sechs Mütter seiner sieben Kinder im Nacken. 150 000 Dollar Monatsgehalt aus Jacksons Kasse seien für Murray existenziell wichtig gewesen. Die Gier danach habe Murrays Urteilsvermögen verblendet und seine medizinische Ethik zerschlissen, reümierte Walgren. Folgt die Jury ihm, drohen Murray vier Jahre Haft und lebenslanges Berufsverbot. Mindestens das forderten vor dem von zwei Dutzend Fernsehübertragungswagen belagerten Gerichtsgebäude mehrere hundert Fans. Auf einem ihrer Plakate hieß es schlicht: “Gerechtigkeit für Michael!” Auf einem anderen stand nur ein Wort: "Monster."