Lampedusa. Für 850 Flüchtlinge wurde das Auffanglager auf der kleinen Insel Lampedusa gebaut, am Mittwoch drängelten sich mehr als 1600 darin – und die Stimmung scheint zu kippen.
Vor ein paar Tagen, da war Barbara Molinario noch ganz gelassen. Da war die See rau, die Lage auf Lampedusa dafür umso ruhiger. Jetzt ist’s genau umgekehrt, aus Tunesien kommt ein Boot nach dem anderen an, und das Auffanglager der kleinen Insel, wo Barbara Molinario als Beauftragte des UN-Flüchtlingskommissariats arbeitet, platzt aus allen Nähten. Für 850 Leute ist es gebaut, mehr als 1600 drängten sich am Mittwoch darin, und die Stimmung scheint zu kippen.
Ein Tunesier hat versucht, sich die Pulsadern aufzuschneiden, und der Ärztin, die ihm helfen wollte, eine Schere an den Hals gedrückt. Und mit den beiden Neuankömmlingen, die in bedrohlichem Gesundheitszustand sofort nach Sizilien ausgeflogen wurden, kehren die Flüchtlingsdramen wieder, die Lampedusa nach zwei Jahren der Ruhe vergessen glaubte.
Bisher strandeten nicht mehr die ausgezehrten Eritreer und Schwarzafrikaner von einst. Es sind junge, gesunde, gut ausgebildete Männer auf Arbeitssuche; Frauen und Kinder sind nicht dabei.
„Weil wir arbeiten und vernünftig verdienen wollen“
Sie nennen sich Jamal, Nemi, Khaled oder Nasser. Taxifahrer, sagt er, war der eine, Bäcker der zweite, der dritte hat Elektrotechnik studiert, und der vierte Medizin. Älter als 25 Jahre ist keiner, angezogen sind sie genauso schick wie die Italiener, und eigentlich dürften sie gar nicht durch die Straßen von Lampedusa schlendern. Das Lager ist abgeschlossen. Wie sie herausgekommen sind, wollen sie natürlich nicht verraten. Aber weshalb haben sie Tunesien verlassen?
„Weil wir arbeiten und vernünftig verdienen wollen“, sagt der Elektroingenieur: „Sie haben mich daheim zwar ausgebildet, aber einen Job für unsereinen haben sie nicht. Ich hab noch vier jüngere Geschwister, irgendjemand muss die ja versorgen.“ Aber nach der Revolution wird’s in Tunesien doch hoffentlich besser? „Kann schon sein“, sagt Jamal, der Taxifahrer: „Aber was glauben Sie, wie lange das dauert? Jahre. Und wieso sollte ich darauf warten?“
Angst der Hoteliers vor Absagen der Gäste
Nasser wollte einfach nur weg. „Ich hab in Djerba gearbeitet, und dann hab ich miterlebt, wie bewaffnete Banden in den ersten Tagen der Kämpfe in meiner Nähe 25 Leute umgebracht haben.“
Die Lampedusaner stehen der neuen Flüchtlingswelle achselzuckend gegenüber. „Was sollen wir machen?“, fragen achselzuckend die alten Fischer, die da vor dem Caffè del Porto diskutieren: „Wenn man sie gleich ins Lager sperrt, dann ist das ja auch nicht schlimm“, sagt einer, ein anderer: „Aber die ersten 5000 Tunesier dieses Jahr, die sind frei herumgelaufen. Sie haben gebettelt. Sie haben an die Haustüren geklopft. Unsere Familien haben sich nicht mehr ins Freie getraut.“
Die neue Flüchtlingswelle hat Lampedusa kalt erwischt. Gut, sagen sich die alten Männer, es ist alles noch lange nicht so schlimm wie 2008, als fast 31 000 Afrikaner übers Meer herüberkamen. Monate gab es da mehr als 5000 Flüchtlinge auf einmal. Dann schloss Italiens Regierung den fünf Milliarden Euro teuren „Freundschaftsvertrag“ mit Gaddafi in Libyen. 2009 ebbte die Welle schon ab, 2010 zählten die Lampedusaner nur mehr 400 Flüchtlinge, so wenige wie seit 20 Jahren nicht mehr – und sie widmeten sich wieder dem, was nach dem Niedergang der Fischerei ihre Geldquelle geblieben ist: dem durchaus einträglichen Tourismus.
Getrennte Welten
„Aber genau jetzt, da die Leute ihre Oster- oder Sommerferien buchen, kommt das da dazwischen“, sagt Hotelier Mario Liberatore. „Was glauben Sie, wie viele Mails ich bekommen habe mit besorgten Anfragen oder gleich mit Absagen?“ Und dann versucht der Chef des Grand Hotel Sole seinen Kunden begreiflich zu machen, dass sie die Flüchtlinge ja gar nicht zu Gesicht bekommen: Diese landen an der Mole, werden in Busse verladen und in das Aufnahmelager gebracht, das zwei Kilometer außerhalb des Ortes, fernab von jedem Strand, unsichtbar zwischen den Hügeln versteckt ist.
Die Flüchtlingswelt und die Touristenwelt, darauf haben die gut 5000 Inselbewohner erfolgreich gedrungen, die bleiben streng voneinander getrennt.