Tallinn.

Ruhr.2010 neigt sich dem Ende entgegen – in Estland dagegen laufen noch die Vorbereitungen: Wie sich Tallinn auf das Abenteuer Kulturhauptstadt 2011 vorbereitet.

Der Weihnachtsmann heißt übrigens Sergej Fatkin, hat Hände wie Schneeschaufeln und verdiente, als es die Sowjetunion noch gab, sein Geld als Akrobat. Dreimal ist er sogar im Berliner Friedrichstadtpalast aufgetreten, sagt er stolz. Jetzt sitzt er, obwohl Weihnachten vorbei ist, immer noch in seinem kleinen Niko-Haus am Rande des Weihnachtsmarkts auf dem Rathausplatz von Tallinn. Und noch immer klopfen Estländer bei ihm an, um ihre Wünsche vorzutragen. Seit ein paar Tagen geht es aber nicht mehr um Handys, sondern um den größten Wunsch, den die Bewohner der estländischen Hauptstadt im Herzen tragen: dass das Abenteuer „Kulturhauptstadt Europas 2011“ in Tallinn ein ebenso großer Erfolg sein möge wie die Kulturhauptstadt Ruhrgebiet 2010. Und wie schräg gegenüber bei den Freunden im finnischen Turku.

Wer dieser Tage durch die Schneewehen der schockgefrosteten 400.000-Einwohner-Stadt stapft, die einmal Reval hieß und im Mittelalter zu den bedeutendsten Hansestädten gehörte, braucht Fantasie. Genügend Fantasie, um sich vorzustellen, dass im Sommer hier statt der 66 weißen Zipfelmützen abendrote Dächer leuchten werden. Und dass hier, wo sich noch der Schnee meterhoch türmt, die Tallinner bald buchstäblich aus dem Häuschen sein werden, um ein Jahr lang – und im Sommer bei gut 30 Grad – ein Kulturfest mit Tanz und Straßentheater, Papageienschießen und Speerkampf und avantgardistischen Performances, Konzerten, Ausstellungen und Chorgesängen zu feiern. Und, vor allem, um „Geschichten am Meer“ zu erzählen.

Farbenfrohes Unesco-Welterbe

Hier im farbenfrohen Unesco-Weltkulturerbe, wo verwunschene Gassen und Gässchen unter schmucken Bürger-, Handels- oder Lagerhaus-Fassaden und reich verzierten Giebeln mäandern und auf prächtigen Plätzen enden, sollen 50 Jahre lang die Sowjets regiert haben? Da haben manche Eifeldörfer eine schlechtere Bausubstanz. Möglich gemacht haben dieses kleine Wunder die Olympischen Spiele 1980 in Moskau. Damals fanden in Tallinn die Segelwettbewerbe statt, also hatte man zuvor die Altstadt nach Kräften saniert. Aber an diese Zeit denken die Tallinner nicht gern zurück, wie das 1,4 Millionen-Völkchen der Esten bei aller Liebe zur – immer eher skandinavischen als slawischen – Tradition überhaupt zu den neugierigsten und zukunftsfrohsten Völkern Europas zählt. Immerhin steht hier, wo es fast an jeder Ecke ein schnuckeliges Museum gibt, die freie Internetnutzung für jedermann im Gesetz, gibt es WLAN-Anschlüsse so gut wie überall. Parkgebühren werden längst per Handy bezahlt – und wussten Sie, dass Skype in Estland erfunden wurde?

Kaum zu glauben, wenn man gerade von einer reizenden Dame mit Schnabelschuhen an den Füßen in eins der Restaurants gehext wird, in denen man bei Kerzenschein und Honigbier tafeln kann wie die estischen Hansebürger vor 700 Jahren. Wenn man Glück hat, bekommt man hier sogar noch alte estische Weisen vorgesungen, denn die Esten singen für ihr Leben gern. Estisch klingt übrigens schön, ungefähr so als ob ein betrunkener Russe Finnisch vergeblich übte... Man versteht kein Wort, denn das Estische ist eine finno-ugurische Sprache und stirbt quasi aus, seitdem es sie gibt. Gerade drum klammern sich die Esten an ihre Sprache, die schwedischen, deutschen, russischen und zuletzt sowjetischen Besatzungen trotzte und am lebendigsten ist in ihren Chören und Liedern. „Ohne Chöre gäbe es uns gar nicht“, sagt Maris Hellrand, die für Tallinn 2011 arbeitet. Immerhin haben die Esten, die seit 1991 frei sind, Ende der 80er-Jahre die russischen Panzer weggesungen, damals im Musikstadion, wo später Madonna und Bob Dylan auftreten sollten und, wer weiß, demnächst Lady Gaga. In Estland haben die Montagsdemos jeden Tag auf der Laulupidu (Sängerwiese) stattgefunden, und es waren 300 000, die der „singenden Revolution“ ihre Stimme gaben: „Mu isamaa, mu önn ja rööm“, sangen sie verbotener Weise, „Mein Vaterland, mein Glück, meine Freude!“

Der Komponist des Schweigens

Dies gehört zu den Geschichten, die die Tallinner ihren Gästen im Kulturhauptstadtjahr erzählen wollen. Auch Arvo Pärt, der große Avantgardist, den man „Komponist des „Schweigens“ nennt, ist Teil davon. Der freundliche Mann, der in den 80ern vor den Sowjets ins Ausland floh und dort Karriere machte, ist in Estland ein Superstar. Und die Tallinner sind stolz wie Bolle, dass der Weltbürger wieder heimgekehrt ist. Als just ein Best-of-Album seiner sperrigen Musik herauskam, stand es 14 Wochen lang an der Spitze der Estischen Top-Ten-Hits – weit vor Lada Gaga. Die Musterknaben des Baltikums sind ein musikvernarrtes Volk, und so besteht ein Gutteil des Kulturhauptstadtprogramms aus allen Arten von Musik, Musik, Musik bis hin zum 4. Weltmusik-Forum und der Vollversammlung des Internationalen Musikrats im September.

Eine kleinere Geschichte hat Otto Kubo zu erzählen. Der 78-Jährige ist so was wie die gute Seele des „Martsipanituba“, des Mitmach-Marzipanmuseums, das der Süßwarenriese Kalev in der Altstadt betreibt. Da wäre aber auch der Chef des schnieken Telegraaf-Hotels, der einem erklären kann, wie man vom beschaulichen Borken nach Estland kam, bevor Ryanair den Flug zwischen Weeze und Tallinn locker in zwei Stunden hinkriegte. Man könnte natürlich auch der Fremdenführerin Merte lauschen, die geradezu ungläubig davon berichtet, dass ihre Eltern ihr damals zu Erziehungszwecken mit dem estischen Bullemann gedroht haben: „Das wird dem Herrn Lenin aber gar nicht gefallen!“

Der Kalte Krieg gehört zur Geschichte

Wer das angesichts der tallinnschen Aufgeschlossenheit nicht glauben mag, der kann sich an Peep Ehasalu wenden. Der „Viestintäpäällikkö“, also Kommunikationsmanager im alles überragenden Sokos-Hotel, das einst Finnen im Auftrag der Sowjets bauten, und wo, wie jeder wusste, in der obersten Etage, „die es gar nicht gab“, der KGB hockte und horchte. Im Kulturhauptstadtjahr machen Peep und Kollegen im Hotel Führungen durch die Zeit des Kalten Krieges, die genauso zur Geschichte gehört wie die Deutschritter und die Hanse.

Natürlich erzählen 2011 die Tallinner Grafiktriennale, die 1. Weltmeisterschaft der Feuerskulpturen, der Kulturkilometer, die Jugendkunst-Eksperimenta, oder die Tallinner Musikwoche im März, das verrückte Strohtheater im Mai und, klar, die Pärt-Uraufführung größere Geschichten. Und die allerallergrößte wird ohnehin ein wenig außerhalb erzählt, wo sich die Tallinner wie im trendigen Rotermann-Viertel den Zugang zum Meer zurückerobern. Hier im Sperrgebiet a.D. wird ein „Tango-Hafen“ eröffnet, der jedermann rund um die Uhr Argentinien-Feeling verspricht, wo die paranoiden Sowjets für ein halbes Jahrhundert einen eisernen Riegel zwischen Menschen und Meer schoben, waren sogar Fenster zum Meer verboten. Nun entsteht hier ein Mammutprojekt, das um ein Vielfaches mehr kosten wird, als die 16,5 Millionen Euro, die die Tallinner für ihr Kulturhauptstadtprogramm ausgeben können, in das man sich unter kalender.tallinn2011/ee/de oder tallinn2011.ee vertiefen kann.

Gewaltiges neues Maritim-Museum

Die Rede ist vom gewaltigen neuen Maritim-Museum-Tallinn, das gerade in einen kathedralengroßen Drei-Kuppel-Bau gepflanzt wird, und wo Fische, U-Boote, Eisbrecher, Wasserflugzeuge und Massen von Touristen Platz finden sollen. Mitte August soll die neue Meerespromenade mit einer Hafenregatta eröffnet werden, und das ist nur der Beginn eines enormen Themenparks, mit dem das zukunftsfrohe Tallinn auch lange nach dem Kulturhauptstadtjahr seinen Gästen große Geschichten erzählen will. Und wenn nicht alles rechtzeitig fertig werden sollte im Kulturhauptstadtjahr?

Dann wird man sich an ein estisches Märchen erinnern. Danach erscheint jedes Jahr ein Gnom am Stadttor und fragt, ob Tallinn endlich fertig sei. Sollte das jemals bejaht werden, wäre das das Ende von Tallinn. Und was Sergej Fatkin, unseren Weihnachtsmann angeht: Bevor der seinen Urlaub antritt, hat er den Esten einen ihrer größten Wünsche schon erfüllt: Am 1. Januar gibt’s hier ein Eröffnungsspektakel mit Präsidentenrede, Chorgesang, Mords-Feuerwerk und allem Pipapo und obendrauf – den Euro.