Berlin. Vor zehn Jahren hat Conchita Wurst den ESC gewonnen. Im Interview spricht sie über den Wettbewerb und wie er ihr Leben verändert hat.

Alexander Nebe

  • Zehn Jahre ist es her, dass Conchita Wurst den Eurovision Song Contest für Österreich gewonnen hat
  • Seitdem hat sich das Leben des Travestie-Künstlers, der im echten Leben Tom Neuwirth heißt, radikal verändert
  • Schon im Februar haben wir ihn zum Interview getroffen und über die ESC-Erfahrung gesprochen

Vor zehn Jahren triumphierte der Österreicher Tom Neuwirth als Kunstfigur Conchita Wurst mit dem Song „Rise Like A Phoenix“ beim 59. ESC. Seitdem gilt der inzwischen 35-Jährige als eine der Ikonen der internationalen LGBTQ-Szene. Im Vorfeld des Eurovisin Song Contestes 2024 war Tom alias Conchita an der Seite von Popstar Rea Garvey im sechsteiligen ARD-Docutainment-Castingformat „Ich will zum ESC!“ als Coach zu sehen. Ein Gespräch über Deutschland in der ESC-Krise, Träume und Selbstzweifel.

Wie schwer fiel es Ihnen, Vorsingenden bei „Ich will zum ESC!“ zu sagen, dass es für ein Weiterkommen leider nicht reicht?

Conchita Wurst: Ich habe immer meinem Bauchgefühl vertraut. Rea und ich wussten genau, auf welches Ziel wir hinarbeiten, so dass es dann auch immer relativ schnell klar war, wieviel da noch fehlt oder wieviel an Potenzial bereits vorhanden ist. Deshalb habe ich das Gefühl, dass alle meine Entscheidungen auch nachvollziehen konnten.

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Tom Neuwirth alias Conchita Wurst sucht in der ARD-Docutainment Serie „Ich will zum ESC!“ mit Rae Garvey nach Kandidaten für den Eurovision Song Contest 2024. © DPA Images | André Kowalski

Sie selbst haben 2006 an der Casting-Show „Starmania“ teilgenommen.

Wurst: Und deshalb weiß ich auch nur zu gut, wie es sich anfühlt, vor einem Juroren-Team zu stehen und wie unglaublich groß die Anspannung ist. Aber hey: „There’s no Business like Showbusiness!“ Druck gehört einfach dazu und wenn du dem nicht gewachsen bist, bist du in diesem Business leider falsch.

Conchita Wurst zum ESC: Es gibt kein Geheimrezept

Seit 2015 hat Deutschland beim ESC viermal den letzten und dreimal den vorletzten Platz belegt. Selbst bei eingefleischten Fans kommt deshalb zunehmend Frust auf…

Wurst: Und das kann ich auch gut verstehen. Zuletzt lief es wirklich sehr mau – wobei man nicht vergessen darf, dass Deutschland alle paar Jahre auch immer wieder gut abschneidet. Grundsätzlich liebe ich Ehrgeiz und Wettbewerb und finde es gut, dass Deutschland trotz Pleiten immer wieder mit dem Anspruch antritt, erneut vorne mitzumischen.

Ich möchte aber auch daran erinnern, dass der ESC als Friedenskonzept erdacht wurde. Diese Veranstaltung ist ein wunderbares Beispiel dafür, dass wir uns auch dann gegenseitig wertschätzen können, wenn wir miteinander im Wettbewerb stehen.

Sprich: Lieber locker machen und der Devise „Dabei sein ist alles“ folgen?

Wurst: Ein Geheimrezept gibt es einfach nicht und ein Sieg beim ESC setzt sich jedes Mal wieder aus vielen verschiedenen Faktoren zusammen: der Performance, der Komposition, dem Act selbst, der aktuellen gesellschaftlichen Grundstimmung usw. Am Ende ist es das Gesamtpackage und das Bauchgefühl von Jury und Publikum, das über Top oder Flop entscheidet.

Ich finde es übrigens sehr amüsant zu sehen, welches Land sich vom Vorjahres-Gewinner extrem hat inspirieren lassen. Viele glauben immer noch: Mit dem Erfolgsrezept vom Vorjahr wird es doch sicher auch zweimal hintereinander klappen …

Conchita Wurst brauchte Jahre, um den ESC-Sieg zu verarbeiten

In diesem Jahr ist es 50 Jahre her, dass ABBA mit dem Song „Waterloo“ den ESC gewonnen hat zehn Jahre liegt Ihr Sieg mit dem Song „Rise like a Phoenix“ bereits zurück. Wie blicken Sie heute auf diesen Triumph?

Wurst: Mit großer Dankbarkeit für eine unglaubliche Erfahrung. Allerdings konnte ich das alles in der ersten Zeit nie wirklich verarbeiten. Das hat am Ende Jahre gebraucht! Und vielleicht habe ich mich vom extremen Hype um meine Person nach dem ESC-Sieg etwas zu sehr mitreißen lassen und deshalb so ziemlich alles mitgenommen.

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Rückblickend kann ich heute aber sagen: Wahnsinn, was in den vergangenen zehn Jahren alles in meinem Leben passiert ist! Heute bin ich sehr fokussiert, in mir ruhend und weiß endlich ganz genau, was ich will und was nicht.

„Uns steht eine sehr intensive und harte Zeit bevor“

Geht die Diversity- und Woke-Bewegung inzwischen nicht etwas zu aggressiv und unversöhnlich vor und erreicht damit eher eine Abwehrhaltung als wohlwollende Toleranz? Wäre es nicht gut, wenn alle wieder mehr aufeinander zugehen würden? 

Wurst: Absolut! Auf der anderen Seite glaube ich, dass es den großen Konflikt einfach braucht. Einen Konflikt, der mit Vehemenz ausgetragen werden muss! Das ist in gewisser Weise sicherlich auch kontraproduktiv, weil wenn man nicht mehr aufeinander zugeht und miteinander spricht. Und deshalb steht uns eine sehr intensive und harte Zeit bevor – aber offensichtlich brauchen wir genau das. Auch wenn ich es mir anders wünschen würde…

Deswegen sorgt sich Conchita Wurst um die queere Community

Sie sind eine Ikone der queeren Szene. Wo steht die Community in Ihren Augen Anfang 2024?

Wurst: Noch leben wir in unseren Breitengraden in einer Wohlfühlblase, in der CSD-Paraden stattfinden können und gesetzlich für die LGBTQI+-Community alles geregelt ist. Ich traue der Welt aber alles zu…

Warum?

Wurst: Wir sehen ja, was in anderen Ländern geschieht: In Russland drohen seit kurzem zehn Jahre Haft für das Hissen der Regenbogenfahne! Es wurde zwar schon viel erreicht, aber wir merken derzeit, wie fragil das Ganze ist. Gesetze können auch schnell wieder gekippt werden, wenn Menschen an die Macht kommen, die das Rad gerne zurückdrehen wollen. Es bleibt auf jeden Fall spannend. Wir sind mitten in einem Kampf zwischen Fort- und Rückschritt und dürfen uns deshalb auf dem Erreichten auch nicht ausruhen.

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Welchen großen Traum möchten Sie sich in nicht allzu ferner Zukunft erfüllen?

Wurst: Ich möchte gerne eine eigene Couture-Kollektion mit einem großen Budget im Hintergrund auf die Beine stellen. Aber diesen Traum haben wahrscheinlich alle, die eine Modeschule besucht haben. Ich weiß zwar noch nicht, wer die bezahlt und wer die Couture am Ende kaufen soll. Aber diese Fantasie in die Tat umzusetzen, wäre schon großes Kino! 

Wovon hätten Sie gerne weniger?

Wurst: Definitiv von meinen Selbstzweifeln!

Warum haben Sie die heute noch?

Wurst: Das ist einfach tief in mir verankert. Gerade nach den Erfahrungen, die ich als queeres Kind und Teenager gemacht habe, dauert es ein paar Therapiestunden mehr, bis ich mir endlich auch einmal selbst geglaubt habe, dass ich tatsächlich genug bin. Inzwischen gelingt mir das manchmal sogar für eine längere Zeit…

Conchita Wurst gewann 2014 den ESC in Kopenhagen.
Conchita Wurst gewann 2014 den ESC in Kopenhagen. © picture alliance / PYMCA/Photoshot | Gonzales Photo/Christian Hjorth

Aber?

Wurst: Es knickt eben doch immer wieder ein. Gerade jetzt, wo ich mit dem Theater etwas ganz Neues wage, steigt in mir die große Panik und der große Zweifel hoch! Dann denke ich mir, was zum Teufel mache ich hier eigentlich? Am Ende wird dann ja wahrscheinlich doch alles gut – aber ich bin da wohl besonders sensibel und durchlässig. Ich wurde zur Demut erzogen und hatte mich gefälligst nicht selbst gut zu finden. 

Conchita Wurst: „Früher war ich wilder, mutiger, kompromissloser“

Welchen guten Rat würden Sie Ihrem 18-jährigen Ich geben?

Wurst: Ehrlicherweise glaube ich, dass ich mir heute eher von meinem jungen Ich ein paar gute Tipps geben lassen könnte.

Wie meinen Sie das?

Wurst: Es mag sich vielleicht komisch anhören, weil die meisten andere Erfahrungen gemacht haben: Aber als sehr junger Mensch war ich definitiv selbstbewusster als heute. So vieles war mir komplett Wurscht, was mir heute eben nicht mehr egal ist. Früher war ich wilder, mutiger, kompromissloser und dachte mir: Was soll’s? Tu es einfach! Go for it! Du machst schon alles richtig. Heute geht bei mir schnell das Kopfkino an, wodurch ich manche gute Idee am Ende manchmal zerdenke. 

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