Reggio Calabria. .

Das Leben als Mafiosi ist stressig und gefährlich. Deshalb suchen die italienischen Kriminellen Hilfe beim Therapeuten. Es ist nur eine kleine Schar von Psychologen, denen die Bosse Einblicke in ihr Seelenleben gewähren.

Den Mafioso plagten schwere Verlustängste. Doch es ging nicht um den Verlust von Menschenleben, nicht einmal seiner Freiheit. „Doktor, es ist mein Haar!“, gestand der Gangster der „Ndrangheta einem Psychiater im Gefängnis. „Ich habe Angst, mein Haar fällt aus. Und schauen Sie sich die Flecken auf meinem Arm an, sehen Sie?“ , barmte er und rollte den Ärmel hoch. „Aber Ihr Haar ist in Ordnung. Vollkommen in Ordnung. Und da sind auch keine Flecken“, versuchte Gabriele Quattrone seinen Patienten zu beruhigen.

Die Szene spielt nicht in der Fernsehserie „Die Sopranos“, sondern im wirklichen Leben. Quattrone zählt zu einer kleinen Schar von Psychotherapeuten, die Bosse der organisierten Kriminalität in Italien und ihre Familienangehörigen behandeln. Unter ihren Patienten sind von Albträumen verfolgte Paten, panische Verräter und depressive Ehefrauen. Unter Wahrung der Anonymität der Betroffenen ermöglichten sie in Interviews der Associated Press seltene Einblicke in das geheimnisumwitterte, zunehmend angespannte Innenleben der Verbrechersyndikate.

Quattrone gab seinem inhaftierten Patienten mit der Furcht vor Haarausfall Beruhigungsmittel und versuchte ihn dann zu bewegen, einmal in sich zu gehen. „Das ist der Stress, wenn man 20 Jahre auf der Flucht ist, wenn man vor Gericht kommt“, erklärte er dem Boss aus Reggio Calabria. „Ja, stimmt, ich bin gestresst“, entgegnete der. „Ich bin gestresst, weil ich unschuldig bin!“

„Mein Vater bringt uns um“

Marlon Brando in seiner legendären Rolle als Mafiaboss in „Der Pate“. Foto: Getty Images
Marlon Brando in seiner legendären Rolle als Mafiaboss in „Der Pate“. Foto: Getty Images © Getty Images TV

Es sind aber auch schwere Zeiten für schwere Jungs. Die Polizei geht verstärkt gegen die organisierte Kriminalität vor, und Geschäftsleute weigern sich, Schutzgeld zu zahlen. So ringen manche Söhne einschlägiger Familien mit Selbstzweifeln und der Unsicherheit, ob sie wirklich aus dem richtigen Holz sind, in die blutigen Fußstapfen ihrer Väter und Großväter zu treten. Hilfe zu suchen, ist eine riskante Sache: Unter Mafiosi gilt ein Termin beim Seelenklempner als Schwäche, die das Leben kosten kann. Der Psychologe Girolamo Lo Verso aus Palermo weiß vom Fall eines Gangstersohns, der seinem Therapeuten sagte: „Wenn mein Vater erfährt, dass ich hierherkomme, bringt er uns um.“

„Wenn man Mafioso ist und Ängste hat, ist man nicht vertrauenswürdig und muss beseitigt werden“, sagt Lo Verso. „Ein Mafioso ist wegen allem paranoid“; er traut dem Schweigegebot der Omertà eher als der ärztlichen Schweigepflicht. Die Ermittlungen haben Hunderte Bosse teils für Jahrzehnte hinter Gitter gebracht - eine schwere Belastung für die seelische Gesundheit ihrer Frauen und Kinder, und manchmal auch der Verbrecher selbst.

Einsamkeit im goldenen Käfig

Quattrone, Chef der Neuropsychiatrie an einem Krankenhaus in Reggio Calabria, wurde einmal zu einem Wohnhaus in einer noblen Gegend gerufen. Ein Fahrstuhl ohne Knöpfe und mit gepanzerter Tür fuhr stracks von der Tiefgarage in ein Appartement mit verdunkelten Fenstern. Im riesigen Schlafzimmer mit eingelassenem Pool ruhte die schwer depressive Ehefrau des Gangsterbosses. Arzt und Patientin sahen einander an. Die Anwesenheit des Gatten war der Kommunikation hinderlich, doch der Blick der Frau sagte Quattrone alles, was er wissen musste. „Wir verstanden einander“, sagt er. „Sie war unterdrückt in ihrer Rolle als Frau eines Mafioso.“ Die Diagnose: tiefe Einsamkeit.

Die Frau war niedergedrückt, weil sie kaum jemals aus dem Haus kam, und wenn schon, dann nur mit Chauffeur und einem Wagen mit verdunkelten Scheiben. Der Psychiater verschrieb Antidepressiva und behielt sie die nächsten Monate im Auge. Über die Vorstellung, ihr Mann könnte einmal selbst eine Psychotherapie in Erwägung ziehen, kann Quattrone nur lachen. Wie Tony Soprano in der Fernsehserie seiner Therapeutin sagte: „Ich verstehe Therapie als ein Konzept. Aber in meiner Welt kommt das nicht an.“

Gruppensitzung im Hochsicherheitsgefängnis

Lo Verso lehrt an der Universität Palermo, die demnächst einen ersten Kurs in Psychologie der Mafia anbietet. Die Therapeuten erstellen psychologische Profile unter anderem aufgrund der Behandlungen von Gangstern und ihren Angehörigen, den Aussagen Abtrünniger vor Gericht und Abschriften abgehörter Gespräche, die als Beweismittel vorgelegt werden. Material für Lo Versos Forscher bietet auch die Gruppentherapie im Gefängnis.

Bei einer Sitzung im Hochsicherheitsgefängnis San Pietro in Reggio Calabria kam kürzlich eine Runde gepflegt gekleideter, frisierter und parfümierter Herren zusammen, wie der Psychologe Paolo Pratico schildert. Alle waren sie daran interessiert, „gute Führung“ zugunsten einer vorzeitigen Freilassung zu demonstrieren. Doch einer wie der andere weigerten sie sich zuzugeben, dass die „Ndrangheta überhaupt existiert. Vielmehr beharrten sie darauf, Opfer eines Justizirrtums geworden zu sein. Denn wenn es die Mafia nicht gibt, so ihr Argument, wie können sie dann als Mitglieder derselben verurteilt werden? (dapd)