München. Schüsse, Explosionen, schwer verletzte Menschen. Deutsche Ärzte warnen: Bei einem Terroranschlag sind sind wir nicht ausreichend vorbereitet.
Binnen Minuten waren die Krankenhäuser in München in Bereitschaft versetzt. Ärzte eilten aus dem Feierabend herbei. Als im vergangenen Juli Schüsse im Olympia-Einkaufszentrum fielen, ging die Polizei vom Schlimmsten aus: Ein Terroranschlag, vielleicht sogar wie Monate zuvor in Paris an mehreren Stellen in der Stadt. Es war jedoch der Amoklauf eines Einzelnen. Einen großen Anschlag mit Sprengstoff und Schusswaffen hat es bisher in Deutschland nicht gegeben.
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Chirurgen und Notfallmediziner aber schlagen Alarm. Es fehle an Kenntnissen, Einsatzplänen und Material für einen solchen Terrorfall, sagt Tim Pohlemann, Präsident des 134. Chirurgenkongresses in München (21. bis 24. März). Die rund 6000 Teilnehmer wollen sich unter anderem mit diesem Thema befassen.
Hoher Blutverlust, innere Verletzungen, Brandwunden
Bei dem Attentat am Breitscheidplatz in Berlin hätten die Helfer die Lage relativ gut in den Griff bekommen. "Das war mehr oder minder ein sehr großer Verkehrsunfall. Das sind die Verletzungsmuster, mit denen wir uns sehr gut auskennen", sagt Pohlemann. "Aber wenn wir nach Frankreich oder Belgien schauen, dann waren das Kriegsverletzungen."Hoher Blutverlust, innere Verletzungen, Brandwunden, dazu die Gefahr eines Zweitschlages der Terroristen gegen die Helfer machen die Lage unübersichtlich und schwierig.
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"Wenn wir von Sprengstoffanschlägen reden, gibt es eine Druckwelle, die allein schon schwere Verletzungen bringen kann. Dann fliegen Teile der Bombe, die zu Geschossen werden, Nägel oder Splitter. Dann haben wir einen Feuerball, also Verbrennungen", sagt Benedikt Friemert, Klinischer Direktor der Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie am Bundeswehrkrankenhaus Ulm. Chemikalien und radioaktive Stoffe könnten hinzu kommen."
Es sind ganz andere Verletzungsmuster, die auf uns zukommen und mit denen wir im zivilen Bereich gar nichts zu tun haben", sagt auch Reinhard Hoffmann, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) und Ärztlicher Direktor der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik Frankfurt am Main.
Retter müssen Lage extrem schnell überblicken
Die Retter müssen die Lage extrem schnell überblicken. Wer lebt? Wer ist bei Bewusstsein? "Jeder der mich hört, hebt den Arm", könnte der Ruf lauten, um Klarheit zu bekommen. Wird noch geschossen, müssen Polizeibeamte Verletzte aus der Gefahrenzone holen - und erste lebensrettende Maßnahmen ergreifen, etwa Blutungen stillen.
Dabei fehlt es teils an Mitteln, etwa Tourniquets, Abbindesysteme für Extremitäten, die ein Verbluten verhindern. Hunderte wurden in Paris bei der Anschlagsserie im November 2015 gebraucht.
Jeder Rettungswagen müsse mit mindestens zwei Tourniques ausgerüstet werden, sagt Friemert. Bayern etwa habe das rasch umgesetzt. Hoffmann schlägt vor, Tourniquets zur Pflicht im Verbandskasten zu machen, der Umgang könne standardmäßig in Erste-Hilfe-Kursen geschult werden.
Krankenhäuser sollen üben, Terroropfer zu behandeln
Gut 600 der 2000 Krankenhäuser in Deutschland kommen für die Aufnahme von Terroropfern in Frage. Die Ärzte verlangen dort Übungen. Rund 100 000 Euro würde das für eine mittelgroße Klinik kosten. Unklar ist, wer das bezahlt. Im Mai startet die DGU zweieinhalbtägige Schulungen für Entscheidungsträger in Kliniken. Sie müssen in einem Ernstfall Prioritäten setzen: "Welcher Patient bekommt in welcher Reihenfolge welche Operation mit welchem Material?", sagt Friemert.
Die weit entwickelte minimalinvasive Chirurgie etwa nutzt bei Terroropfern oft nicht, sagt Pohlemann. Interdisziplinäre Ärzteteams aus Gefäß-, Brustkorb- und Bauchchirurgen seien gefordert. Nun könnte zum Problem werden, dass die Medizin seit langem auf Spezialisierung gesetzt hat. "Die breit ausgebildeten Chirurgen sterben langsam aus", sagt Hoffmann.
Dabei ist die Unfallchirurgie wesentlich aus der Versorgung von Verwundeten in Kriegen entstanden. Doch im Nachkriegsdeutschland war Krieg ein Tabuthema. Jede Vorbereitung für mögliche Katastrophenszenarien galt in den 1980er Jahren schon als erster Schritt in den Krieg - und war gesellschaftlich geächtet. "Das war damals die politische Stimmung", sagt Friemert. Nun fehlt das Wissen. "Jetzt merken wir, dass wir keinen Krieg haben, aber Kriegsverletzungen durch Terroristen ins Land gebracht werden."
Rettungskräfte in anderen Ländern sind geübter in Terror-Lagen
Viele Länder sind weiter. In Paris hatten die Rettungskräfte just am Morgen der Anschlagsserie ihre monatliche Übung absolviert. In den USA, wo es bei höherer Kriminalität oft Schießereien gibt, sind Tourniquets wie Defibrillatoren an öffentlichen Orten deponiert.
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Dass es in Deutschland langsam vorangeht, liegt den Ärzten zufolge auch an der politischen Struktur: Terrorabwehr obliegt den Ländern. Der Zivilschutz zählt zur Landesverteidigung und ist Bundessache - und war im Frieden lange kein Thema mehr. Dass viele nicht wissen, wie sie sich verhalten sollten, machten nicht zuletzt die kopflosen Reaktionen vieler Menschen bei dem Amoklauf in München deutlich.
Auch ein Blick in die Krisenregionen in Nahost zeige die Problematik, sagt Hoffmann. Selbst im Krankenhaus herrscht nicht unbedingt Sicherheit. Das verdeutlichte der Anschlag in der afghanischen Hauptstadt Kabul, wo als Ärzte verkleidete IS-Terroristen ein Militärkrankenhaus stürmten und mehr als 30 Menschen töteten. "Man muss überlegen, wie man Kliniken schützt. Da gibt es nach meiner Kenntnis kein Konzept", sagt Hoffmann.
Die Ärzte drängen. Ein bis zwei Jahre werde es allein dauern, bis flächendeckend Tourniques angeschafft seien, schätzt Friemert. "In den Kliniken wird die Vorbereitung wesentlich länger dauern." (dpa)