München. Neun Menschen erschoss der Attentäter von München. Die Tat hat Spuren hinterlassen bei den Bürgern der Stadt, sie verändert ihr Leben.
Das Wachs vieler Kerzen vor dem Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) ist verlaufen und auf dem Boden in kleinen Pfützen erstarrt. Auf einem Blatt, das jemand in das Blumenmeer gelegt hat, steht: „Es gibt Momente im Leben, da steht die Welt für einen Augenblick still“. Menschen passieren es auf dem Weg zum Einkaufen. Das OEZ in München hat nach dem Amoklauf, der sich hier vor einer Woche ereignete, wieder geöffnet. Es bewegt sich wieder etwas. Aber die Nacht hat Spuren hinterlassen, nicht nur in Form von Wachs und Blumen auf dem Vorplatz. Und nicht nur am OEZ.
„Ich hatte noch nie über den Tod nachgedacht. Jetzt war er Zentimeter von mir entfernt“, sagt Saysha. Das geht ihr noch immer durch den Kopf. Die 26-Jährige hat einen kleinen Laden im unteren Teil des OEZ und verkauft aufklebbaren Schmuck. Dass etwas nicht stimmt, merkt sie am vergangenen Freitag, als Menschen die Rolltreppe herunter stürmen. Sie verlässt ihren Stand, was sie sonst nie lange tut. Und hört Schüsse.
Nun arbeitet sie wieder, aber sie ist ängstlicher geworden – immer dann, wenn sie alleine irgendwo ist. Auf dem Weg in die Garage oder auf die Toilette zum Beispiel. Das Smartphone hält sie fest umklammert. „Erst wenn man zur Ruhe kommt, checkt man richtig, was los ist“, sagt sie. Nach den Schüssen rennt sie raus, auf die andere Straßenseite zu McDonald’s. Dorthin, wo der Amoklauf begonnen hatte und Tote liegen. Das weiß sie aber noch nicht.
Viele Münchener verfallen in der Tatnacht in Panik
Saysha ist nicht der richtige Name der 26-Jährigen, sondern der ihres Ladens. Aber sie will den richtigen Namen lieber nicht irgendwo lesen. Nicht, dass sie jemand auf Facebook sucht. Stress kann sie gerade nicht gebrauchen. Viele andere Mitarbeiter im OEZ wollen gar nicht mehr über den Freitag reden.
Am Stachus, mitten in der Stadt, laufen an jenem Abend Menschen wie um ihr Leben. Zeitweise ist von mehreren Tätern die Rede. München, die Stadt, die meist so geordnet wirkt, verfällt vielerorts in Panik. Heike Ordelheide verkauft an einem Stand Obst, als sie Menschen rennen sieht. „Die riefen ‘Terror!’“, sagt die Verkäuferin. Sie selbst rennt nicht. Die Gruppe hält sie erstmal für verwirrt. „Wissen sie, wie viele Dusselige hier rumlaufen?“, fragt sie.
Nach der Arbeit ist sie in einem Restaurant verabredet. Bis dahin kommt sie, dann aber nicht mehr weg. Die Türen werden verrammelt, die Gäste von den Fenstern weggeholt. Draußen sieht sie Menschen in Panik vorbeirennen. „Meine Kinder haben mich angerufen und zu weinen angefangen. Aber mir ging es ja gut“, sagt die 59-Jährige.
Eine Welle fliehender Menschen
Ordelheide hat die Nacht ganz gut weggesteckt. Sie sei kein ängstlicher Typ, meint sie. Allerdings „kriegt“ sie auf ihrem Handy „das Internet nicht rein“, wie sie sagt. Die sozialen Medien, über die sich an diesem Abend viele Gerüchte verbreiten, dringen nicht bis zu ihr vor.
Wenn Herbert Ebner und Werner Posselt über den Freitag reden, sprechen sie von einer „Welle“. Die beiden Männer arbeiten im Hofbräuhaus. Posselt steht im vorderen Teil, als er Menschen auf sich zu rennen sieht – weg vom Haupteingang, rein ins Innere. Warum, weiß er nicht. „Aber dann rennst du auch erstmal, da denkst du an nichts“, sagt er heute. Stühle fliegen um, Maßkrüge stürzen zu Boden.
Die Furcht vor dem Ausnahmezustand
Auch das Hofbräuhaus, weltweit eigentlich eher Synonym für bayerische Gemütlichkeit, wird an diesem Abend von dem Panik-Virus infiziert. Nach Angaben des Hauses schlagen vier Gäste Fenster ein, um zu flüchten. Am Ende stellt sich heraus: Es gibt dafür keinen Grund. Werner Posselt, Service-Leiter, erlangt nach dem ersten Fluchtreflex recht schnell wieder die Fassung. Er geht zurück zum Eingang, lugt auf den Vorplatz. Das Haustelefon ist auf sein Handy umgeleitet. Es klingelt nun sekündlich.
Herbert Ebner hat sich selbst gerade einen Wurstsalat geordert, als er die Menschen rennen sieht. Er versucht, sie „auf eine Lauflinie zu bringen“, wie er sagt, damit sich so wenige wie möglich verletzen. Wenig später habe ihm die Polizei gesagt, es müsse evakuiert werden. Ebner kümmert sich darum. Heute ist er froh, dass das alles so glimpflich ablief. Was ihm aber noch zu schaffen macht, wie er sagt: Der Gedanke, wie schnell eine Stadt in den Ausnahmezustand verfallen kann. Dass Telefonnetze zusammenbrechen können. Dass ein System aus den Fugen geraten kann. (dpa)