München. Einen Tag nach dem Amoklauf in München zieht sich die Polizei langsam zurück. Doch was bleibt ist der Schock, wie eine Reportage zeigt.
Julia Vinokur hat die ganze Nacht nur geraucht. Eine ganze Schachtel, und jetzt zündet sie sich wieder eine Zigarette an: Weinend und rauchend steht sie an dem noch kleinen Blumenfeld vor dem Münchner Olympia-Einkaufszentrum, das sie hier alle nur OEZ nennen.
Die 27-Jährige hat rote Rosen dazugelegt. „Ich wollte eigentlich gestern Abend noch hier einkaufen“, sagt sie mit brüchiger Stimme. Aber es ging ihr nicht so gut, und so verschob sie das. „Kurz darauf hörte ich Schüsse von meiner Wohnung aus und bald die Hubschrauber.“ Dann stand ihr Telefon nicht mehr still, und sie hat seitdem nicht geschlafen.
Opfer waren selbst Teenager
So nah war der Terror noch nie bei ihr. „Ich war erst vorgestern bei McDonald’s.“ Sie weint, raucht und sagt dann: „Gott sei dank.“
Der 18 Jahre alte David S. hat in diesem Schnellrestaurant am Freitagabend kurz vor 18 Uhr plötzlich um sich geschossen, dabei neun Menschen getötet, acht von ihnen sind selbst noch Teenager wie er, zwischen 14 und 20 Jahre alt. Es war ein klassischer Amoklauf.
Der Anschlag in München
Und doch beißt sich bei vielen Menschen nach dem Angriff im Münchner Norden ein ungutes Gefühl fest: Mit diesem 22. Juli ist der Terror endgültig in Deutschland angekommen. Die langsam wachsenden Blumenmeere, bekannt aus Nizza, Brüssel und Paris, jetzt entstehen sie auch in diesem Land.
Eine Frage beschäftigt alle
Mittendrin sind die großen Zettel, viele handgeschrieben, mit Farbstiften auf Papier. Und mit Fragen. „Warum?“, steht da. Es ist die gleiche Frage, die auch Menschen in Paris, Orlando oder Brüssel nach jeder brutalen Tat gestellt haben. Aber jetzt flackert diese Frage nicht mehr auf Englisch oder Französisch über die Fernsehbildschirme. Jetzt steht die Frage hier in München auf Deutsch.
Und davor steht Julia Vinokur, eine gebürtige Estin, die sagt: „Wir sind doch alle Münchner, ich verstehe das nicht.“
Hannelore Schrimpf steht neben ihr, und auch ihr schießen spontan Tränen in die Augen, wenn sie an den Freitagabend denkt. „Ich wohne seit 37 Jahren gegenüber dem Einkaufszentrum“, sagt sie, „ich habe gestern die Schüsse gehört und konnte es nicht glauben.“ Sie war noch am Morgen shoppen im OEZ. „Das ist ein Stück meiner Heimat, das der Attentäter zerstört hat.“ Ausdrücklich möchte sie die Polizei loben. „Ich hatte sowohl über die Medien als auch vor Ort immer das Gefühl, dass sie den richtigen Ton getroffen haben.“
Anwohner helfen sich gegenseitig
Dann schaut Hannelore Schrimpf auf die Blumen vor ihr auf dem Boden und sagt: „Ich werde trotzdem versuchen, mein Leben nicht zu ändern.“
Doch München war nicht nur am OEZ betroffen. Durch Gerüchte im Internet verbreitete sich eine Panik an verschiedenen Stellen in der Stadt. Jemand hört einen Knall und in Verbindung mit den Meldungen über den Anschlag entsteht die Angst, dass plötzlich der Terror in der Innenstadt sei. Die Polizei lässt große Plätze sperren, stoppt den Nahverkehr und weist Taxifahrer an, keine Kunden anzunehmen. Den oder die Täter vermuten sie zu diesem Zeitpunkt noch auf der Flucht. Eine Stadt ist im Schockzustand. Doch die Münchner halten zusammen. Im Internet posten viele ihre Wohnungsadresse als einen Ort, an dem man Zuflucht suchen kann. Doch nicht nur dort.
Public-Viewing-Raum wird zum Rückzugsort
Das Café „35 Millimeter“ neben einem Kino am sogenannten Stachus, dem Karlsplatz, wurde einer der Orte, die förmlich überrannt wurden. „Wir hatten eine sehr dramatische Nacht“, sagt Geschäftsführer Zdenko Anusic, „plötzlich rief jemand etwas von Schüssen und rund 400 Menschen rannten los.“ Ein Teil der Besucher im Café rannte ebenfalls los. Aber 250 Menschen suchten auch Zuflucht bei ihnen. „Wir haben dann unseren Public-Viewing-Raum von der EM wieder eröffnet.“ Das sei außerdem der sicherste Raum im Haus gewesen. „Der Anschlag in Viernheim vor vier Wochen ist in einem Partnerkino passiert“, sagt Zdenko. „Wir hatten zumindest einen groben Plan.“ Die Stimmung im Café, das erst nach Mitternacht geräumt wurde, beschreibt er als gespenstisch: „Die Leute hatten Angst, in der Nähe von Fensterscheiben zu sein.“ Außerdem wurde im Laufe des Abends bekannt, dass die Tante einer der Anwesenden im OEZ gestorben ist. „Viele haben sich um sie gekümmert und sie beruhigt.“
Auch am Münchner Hauptbahnhof brach eine Panik aus. Nur ein paar Hundert Meter von der Wohnung des Attentäters entfernt wurde das gesamte Gebäude geräumt. Mitarbeiter von mehreren Bäckern erinnern sich, wie plötzlich viele Menschen wegrannten. Züge fuhren den Bahnhof nicht mehr an, etwa 300 Züge und Tausende Passagiere seien betroffen gewesen. Alle Geschäfte hatten geschlossen. Es war keine Übung, es war der Ernstfall und die Polizei in München konnte in kürzester Zeit 2300 Beamte einsetzen.
Gestrandete bilden Fahrgemeinschaften
Zum Zentrum für Schutzsuchende im Hauptbahnhof wurde an diesem Abend die „L’Osteria“. Die Inhaberin Chatie Fedaie ist eine resolute 34 Jahre alte Frau, in Afghanistan geboren und in München aufgewachsen. „Am wichtigsten war mir, dass meine Familie gesund ist“, sagt sie, „sie wohnen alle in der Umgebung des OEZ, und auch ich bin da aufgewachsen.“ Nachdem das aber für sie gesichert war, arbeitete sie die ganze Nacht mit ihrem Team daran, dass die gestrandeten Reisenden sich sicher fühlen.
Rund 250 von ihnen lud sie in die hinteren Räume des Restaurants ein. „Direkt neben uns ist eine Polizeistation, und die waren sehr gut“, sagt Fedaie. „Sie haben uns auf dem Laufenden gehalten, und wir haben regelmäßig Durchsagen auf Deutsch und Englisch gemacht.“ Am Ende der Nacht haben sie Fahrgemeinschaften organisiert, Kellner nahmen Gäste mit ihrem Auto mit. „Ich kann heute sagen: Ich hatte in keinem Moment Angst und habe versucht, dieses Gefühl zu transportieren.“
Ein Wachmann rettet etliche Menschen im OEZ
Auch am OEZ versteckten sich viele Menschen im Gebäude, als der Täter losschoss. Amir Najjarzadeh ist einer der Helden dieses Attentats. Der 20 Jahre alte Wachmann kann noch immer nicht glauben, wie schnell alles ging. „Ich hatte eigentlich 18 Uhr Arbeitsschluss und lief noch einmal eine letzte Runde.“ Dann hörte er die Schüsse. Er hat einen Schlüssel zu fast allen Räumen im Haus und ließ rund 150 Menschen in ein Lager im Untergeschoss. „Dort waren sie sicher.“
In den Minuten danach berichtete er der Polizei von dem Attentäter und hielt auch den Kontakt zu den Eingeschlossenen. Später schaute er noch, ob er weiter helfen könne. Auf der Straße sah er eine schwangere Frau mit blutüberströmten Oberkörper. Das ist das Bild, das er nicht vergessen werde – diese weinende Frau, die ihn um Wasser bittet. Er sagt: „Ich habe nur ganz kurz geschlafen und bin gleich wieder aufgewacht, voller Schweiß, weil ich vom IS geträumt habe.“