München/Essen. Immer mehr Menschen sind süchtig nach Computerspielen. Vor allem World of Warcraft gilt als suchtgefährdend. Im Verein "Aktiv gegen Mediensucht" können sich Angehörige von Spielsüchtigen austauschen. Ein Mutter klagt: "Wir haben unseren Sohn ans Internet verloren".
Ihre dunklen Augen bitten um Verständnis. Sie ist Juristin, hat fünf Kinder und kann selbst kaum glauben, was sie erzählt. Es geht um ihren Ältesten. Aus dem Überflieger ist ein Sorgenkind geworden. „Er war ein so herziger Junge. Intelligent. Aber irgendwann mitten im Abi fing's an.” Der Computer stand im Wohnzimmer. Dass der Sohn immer öfter seine Zeit daran verbrachte, machte sie nicht misstrauisch. „Wir haben's auch gar nicht richtig mitgekriegt. Er spielte, wenn wir im Bett waren.” Seit vier Jahren spielt der inzwischen 25-jährige Sohn täglich bis zu 15 Stunden das Computerspiel „World of Warcraft'' (WoW). Die Uni hat ihn rausgeschmissen, er hat keinen Job, keine Freunde. Seit drei Jahren hat er das Haus seiner Eltern nicht mehr verlassen. „Wenn ich ihm den PC wegnehme, weiß ich nicht, was er mit mir machen würde”, gibt die erschöpfte Mutter zu.
Verzweiflung und Angst vor der Zukunft
Die Frau ist nicht allein mit ihrem Problem. Denn in der Selbsthilfegruppe des Vereins „Aktiv gegen Mediensucht e.V.” trifft sie auf andere betroffene Eltern. Einmal im Monat reden sie sich ihr Leid von der Seele. Davon, wie sie ihre Söhne verloren. Und dass sie nichts dagegen tun konnten. Aus ihren Worten spricht Verzweiflung und die Angst vor der Zukunft. Denn ihre Söhne haben Schule oder Studium und jegliche Kontakte nach draußen abgebrochen. Sie alle sind abhängig vom Computerspiel WoW - zu deutsch „Welt der Kriegskunst”. Jenem Spiel, das mit seinen Zwergen, Elfen und Druiden an das Mittelalter erinnert. In dem sich die Spieler in einer Gilde zusammenschließen, um etwas gemeinsam zu erreichen. Das Spiel geht immer weiter und bietet mehr als Alltag und Schule. Stattdessen locken Erfolg, Belohnung und Gemeinschaftsgefühl - allein vorm PC.
„Es ist sehr schwer für Eltern. Aber wenn sie ihren Kindern helfen wollen, dürfen sie die Sucht nicht unterstützen. Sonst machen sie sich zu Co-Abhängigen”, sagen Christoph und Christine Hirte. Die Initiatoren der Interessengemeinschaft Rollenspielsucht und Gründer des Vereins „Aktiv gegen Mediensucht” nennen Beispiele. Vor allem Mütter brächten es nicht übers Herz, ihren Kindern nicht das Essen an den Computer zu stellen, deren Zimmer nicht aufzuräumen oder die Wäsche nicht zu machen.
2,8 Millionen Menschen sind süchtig
Die Mitglieder der Selbsthilfegruppe nicken schweigend. Die Mütter wissen, wovon die Rede ist. „Er ist jetzt schon so dünn, er soll doch wenigstens was Gesundes in den Magen kriegen.” Die Hirtes hören zu. Bei ihrem eigenen Sohn befolgten sie den Rat eines Therapeuten und drehten ihrem Kind den Geldhahn zu. Der Junge, der seine Zelte in München abgebrochen hatte, um in NRW Informatik zu studieren, war ebenfalls WoW-süchtig. Und weil er so weit weg wohnte, waren Hirtes ahnungslos. „Wir wunderten uns nur, warum er immer seltener ans Telefon ging und auf keine E-Mail reagierte”, erzählt Christoph Hirte. Ein Wasserschaden in der Wohnung des Sohnes und ein Anruf der Vermieterin brachten das Drama zu Tage. ,,Wir haben eine total verwahrloste Wohnung betreten. Da wussten wir, dass er krank ist.” Als sie ihn vor die Wahl stellten, das Spielen dranzugeben und sich behandeln zu lassen oder auf alles andere verzichten zu müssen, entschied er sich für das Spiel. „Damals haben wir ihn verloren.” Damals begann Hirtes Engagement gegen die Onlinesucht.
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Familie Hirte ist kein Einzelfall. So ist im Drogen- und Suchtbericht 2009 der Bundesdrogenbeauftragten zu lesen, dass drei bis sieben Prozent der Internetnutzer als onlinesüchtig und ebenso viele als suchtgefährdet gelten. Bei 40 Millionen Internetnutzern sind das bis zu 2,8 Millionen süchtige Menschen.
Am Klinikum der Johannes Gutenberg-Universität Mainz hat man das Problem längst erkannt. Im letzten Jahr wurde eine Spielsucht-Ambulanz eröffnet, in der das Störungsbild Computerspiel- bzw. Internetsucht gruppentherapeutisch behandelt wird. Angesiedelt ist die Ambulanz an der Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Dass die Online- und Computerspielsucht bislang nicht als Störungsbild anerkannt wird, obwohl es immer mehr Betroffene gibt, bezeichnet das Klinikum als Problem: „Das erschwert eine umfassende Therapie von Betroffenen und blockiert den Ausbau des nationalen Hilfeangebots.”
Im Krieg mit dem eigenen Kind
Die Hirtes wissen, wie viele Eltern Hilfe suchen und keine finden. Auf ihrer Internetseite berichten hunderte Betroffener von diesen Erfahrungen. Sie alle stehen vor dem Problem, dass ihre Kinder nicht therapiewillig sind. „Was willst du? Ich rauche und trinke nicht, ich bin nicht süchtig", kriegt auch die Mutter eines 23-Jährigen zu hören. Seit zehn Jahren befindet sie sich im Krieg mit ihrem eigenen Kind. Sie hat auf ihn eingeredet. Sie hat geweint und gebettelt, er möge bitte aufhören mit World of Warcraft. Als sie es irgendwann im Morgengrauen wagte, den PC auszuschalten, wurde ihr Sohn handgreiflich. Er schleuderte sie durch den Raum, nahm sie in den Schwitzkasten. „Ich habe alles versucht.” Und resigniert. Ihr Sohn lebt nun in seiner eigenen Wohnung, die die Großeltern finanzieren. ,,Er ist vermüllt. Er ist lebensunfähig und hat keine Perspektive”, befürchtet seine Mutter. Die einzige Lösung wäre die Psychiatrie, „dann müssen sie ihn in Handschellen abholen”.
Christoph und Christine Hirte wollen, dass die Spielberechtigung für Online-Spiele auf 18 heraufgesetzt wird. Sie fordern, dass Schulen das Suchtpotential thematisieren. Denn: „WoW ist wie Heroin aus der Steckdose.”