Athen. Zu Besuch auf dem Syntagma-Platz in Athen - dem Zentrum des Protestes gegen Regierung und Vetternwirtschaft. Hier treffen sich alle, die für ihr Land einen neuen Weg suchen - zwischen radikalem Protest und radikaler Volksdemokratie. Ausgang offen.
Die Griechen wissen in diesen Tagen nicht, wie ihnen geschieht. Sie erkennen noch nicht einmal sich selber wieder. Allein die Wut und Verzweiflung über die herrschenden Verhältnisse treibt sie landesweit zu Zehntausenden unter dem Sammelbegriff „Die Empörten“ auf die großen Plätze der Städte – Tag für Tag, Abend für Abend. In Athen auf dem Syntagma-Platz, also dem Platz der Verfassung, direkt vor dem Parlament. Seit dem 25. Mai geht das so. Kurz zuvor hatten spanische Demonstranten in Barcelona, die ihrerseits gegen den Sparkurs ihrer Regierung protestierten, die Parole ausgegeben: „Seid ruhig, sonst weckt ihr die Griechen.“
Dieser Satz verbreitete sich in sozialen Netzwerken wie ein Lauffeuer und sorgte dafür, dass sich in Griechenland eine völlig neue Bewegung zusammengefunden hat. Eine, die sich bislang allein im virtuellen Raum artikulierte; eine, die nichts mit Parteien, Staat, Kirche und Gewerkschaften zu tun haben möchte; eine, die dafür sorgt, dass diejenigen, die sich resigniert oder gar angewidert von den öffentlichen Dingen des Lebens abwandten, sich nun dem zuwenden, was sie die „neue Wirklichkeit“ nennen. Was das genau ist, wissen sie selber noch nicht genau. Aber es leuchtet in ihnen. Es handelt sich um ein kollektives politisches Erweckungserlebnis sondergleichen. Und als Beobachter fühlt man sich wie ein Astronom, der bei der Geburt eines neuen Sterns zusieht. Sterne entstehen bekannterweise in riesigen Gasnebeln, in Athen entstehen sie im Tränengas der Polizei.
Die "verlorene Generation" meldet sich zu Wort
Sophia M. jedenfalls würde den Zusammenhang zwischen Protostern und Protest nicht leugnen wollen. Die 26-jährige gehört einer Altersgruppe an, die Soziologen und Wirtschaftswissenschaftler aufgegeben haben, sie nennen sie die „verlorene Generation“. Sophia sagt, sie gehöre zu den „wenigen Glücklichen“, denn ihr Studium der Internationalen Beziehungen in Athen und Paris habe sie nicht, wie viele ihrer ebenfalls bestens ausgebildeten Freunde, arbeitslos gemacht, sondern sie für eine Stelle bei einem Investmentfonds qualifiziert. Trotzdem kommt sie täglich zum Syntagma-Platz, um nach ihrem Feierabend gegen die „herrschenden Verhältnisse“ zu demonstrieren. Als es „Tränengas-Granaten in einer Gruppe friedlicher Demonstranten regnete“ beschloss sie: „Jetzt erst recht.“
Am griechischen Parlament sind die Rollläden seit vier Wochen runtergelassen, wie bei einem Geschäftsladen, der Pleite gegangen ist. Drinnen geht es aber weiterhin geschäftig zu. Erst um Mitternacht des vergangenen Dienstag hat Premierminister Giorgios Papandreou die Vertrauensabstimmung mit knapper Mehrheit gewonnen, draußen auf den Straßen hat er sie haushoch verloren. „Entweder wir ändern uns oder wir gehen unter“, hatte Papandreou zu Beginn der Krise gesagt. Sophia hingegen sagt: „Die einen ändern sich, die anderen gehen unter.“ Die einen, das sind die Menschen auf dem Syntagma-Platz, die anderen die Politiker und die gesamte Elite des Landes. Sie ist laut Sophia dem Untergang geweiht, weil sie das Land an den Rand des Abgrunds gewirtschaftet haben.
Mehr Gartenparty als Randale
Nicht nur in Sophias Augen hat sich das politische System des Landes komplett diskreditiert. Galten Griechenlands Politiker mal als volksnah, meiden sie inzwischen die Öffentlichkeit, wo sie nicht vorher über eine Gästeliste gesichert ist. Politiker werden bedrängt, beschimpft, bespuckt. Manchmal trifft der Volkszorn sogar bekannte Journalisten, wie etwa Tassos Telloglou, der nach einer Attacke ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Demonstranten wie Sophia haben für so etwas kein Verständnis: „Es ist leicht Gewalt zu verurteilen, aber es ist sehr schwer, sie zu verhindern.“ Sophia und ihre Freunde haben es wenigstens versucht. Auch bei den vorerst letzten Ausschreitungen, als sie sich zwischen knüppelnde Nationalisten, Anarchisten und Polizei-Sondereinsatzkommandos wiederfanden. Immerhin hat Sophia jetzt gelernt, dass „Maalox“, ein Mittel gegen Sodbrennen, auch gegen Tränengas hilft, wenn man es sich ins Gesicht sprüht. Das Medikament ist in den Apotheken der Athener Innenstadt seit Tagen ausverkauft.
Die Bilder der Gewalt sind es, die um die Welt gehen. Tatsächlich aber sind sie nur ein kleiner, hässlicher Ausschnitt der Protestrealität auf dem Syntagma-Platz, den einige in Anspielung auf die Demokratiebewegung in Ägypten auch „Tahrir-Platz“ nennen. Doch in Athen herrscht kein Bürgerkrieg, eher eine gigantische Bürgerversammlung mit Zügen eines Volksfestes. Fliegende Händler verkaufen Dosenbier und Wasser zu sozialen Preisen, an fahrbaren Grillständen werden auf offener Flamme Souflaki-Spieße gebrutzelt. Es riecht mehr nach Gartenparty als nach Randale. Künstler dichten, malen, tanzen. Tagsüber bevölkern Touristen den Platz direkt vorm Parlament, machen Bilder von der Ehrenwache in weißen Strumpfhosen und Faltenrock am „Grabmal des unbekannten Soldaten“, und selbst der Verkehr schiebt sich wie gewöhnlich dicht und zäh über die Straße davor. Die sengende Sonne treibt den harten Kern der Demonstranten unter die Bäume und in die Zelte wie lichtscheue Schattenwesen. Erst gegen 18 Uhr kommen sie wieder hervor. Dann wird auch die Straße vorm Parlament wieder abgesperrt, strömen die Menschen aus der U-Bahn Station auf den Platz – um sich in zwei Lager mit fließenden Übergängen zu spalten.
Zurück zu den Wurzeln?
Auf der unteren Seite des Syntagma trifft man Menschen, die auf dem Boden sitzen und diskutieren. Das Bild erinnert etwas an die Sit-ins, den Sitzstreiks der gewaltfreien
Studentenbewegung im Deutschland der 1960er Jahre. Nur das hier keine Typen mit dem Ego eines Rudi Dutschke oder eines Daniel Cohn-Bendit geduldet werden. Eher wird hier der herrschaftsfreie Diskurs gepflegt. Menschen, die sich zu Wort melden, und die dann doch die Scham übermannt, bekommen aufmunternden Applaus; heißblütige Redner, die rassistische Töne anschlagen, werden ausgepfiffen. Und weil die „Versammlung des Syntagma-Platzes“, wie sich die Empörten hier nennen, entschieden haben, dass keiner in ihrem Namen sprechen darf, sprechen die Menschen mit Journalisten inzwischen nur sehr zögerlich. Nicht nur Sophia will ihren Nachnamen nicht in der Zeitung lesen. Auch Thomas und seine Freundin Aspasia, die zusammen die Reden verfolgen, belassen es beim Vornamen. Wann immer es geht, kommt das berufstätige Pärchen hierher. Warum? „Weil es sonst mit Griechenland nicht mehr weiter geht. Wir müssen uns ändern, jeder von uns.“
Und wo ihr Land schon in der existenziellen Krise steckt, da stellen sich die Menschen existenzielle Fragen. Der meist gehörte Satz, am unteren Teil des Platzes lautet. „Wir Griechen müssen nicht die Regierung ändern, sondern uns selbst.“ Auch der 32-jährige Thomas sagt diese Worte. Auf den Spruchbändern stehen Slogans wie „Du kannst helfen, deine Partei nicht“. Oder: „Werde der Wechsel, den du dir wünscht.“ Der Platz wirkt wie ein gigantisches Sofa, auf dem sich Griechenland zur Psychoanalyse allabendlich unter den Augen der Weltöffentlichkeit hinlegt. Fast möchte man sich wundern, dass einem keine Hippies mit selbst gesteckten Blumenschmuck im Haar entgegenkommen. Aber die Menschen, die sich tagtäglich versammeln, nehmen ihre Forderungen nach „direkter Demokratie“ ernst, achten peinlichst darauf, dass sie von niemandem instrumentalisiert werden. Sie wollen dort anschließen, wo ihre Vorfahren vor 2500 Jahren die Herrschaft des Volkes ausriefen und im 20. und 21. Jahrhundert die Vetternwirtschaft geerntet haben.
"Das führt doch zu nichts"
Monologe halten dürfen auf dem Platz nur Redner, die sie selber eingeladen haben – und auch die müssen sich an vorgegebene Redezeit einhalten. Die Menschen wollen verstehen, warum es ihrem Land wirtschaftlich so schlecht geht, wollen wissen, ob es Alternativen zu Rentenkürzungen und Steuererhöhungen gibt. „Ich habe die Griechen noch nie so erlebt“, sagt ein euphorisierter Efthimios Papadimitriou. Diese Bewegung gebe dem Land die Würde wieder, die es in den letzten Monaten verloren habe, ist sich der Philosophie-Professor im Ruhestand sicher. Was hier geschehe, werde sich ins Bewusstsein der Menschen einprägen. Danach, so seine Hoffnung, werde nichts mehr so sein, wie es mal war. Zumindest in den Köpfen der Menschen. Während er spricht, gesellen sich zwei Brüder dazu, beide sind Fischer, beide sind skeptisch. „Das führt doch hier zu nichts“, sagen sie. Papadimitriou wird eine Stunde lang versuchen, sie vom Gegenteil zu überzeugen.
Es gibt Stimmen, die der heterogenen Syntagma-Bewegung einen Marsch durch die Institutionen vorhersagen, wie sie die Grünen in Deutschland gegangen sind. Der bekannteste Parteienforscher Griechenlands, Athanasios Diamantopoulos, gehört nicht dazu. „Es braucht drei Dinge, damit eine Partei entstehen kann: Unterstützung durch breite Bevölkerungsschichten, Unterstützung durch die Medien und mindestens einen Anführer“, sagt er. Keines davon kann der Politologe erkennen. Zusammen mit zehn anderen bekannten Professoren hat er einen Brief veröffentlicht, in dem er die Griechen auffordert, „der Realität endlich ins Auge zu sehen“. Dafür haben ihn linke Anarchisten bereits mit dem Tod bedroht. Im Gespräch versucht er sich davon unbeeindruckt zu geben, aber man merkt, dass es ihn beschäftigt. „Natürlich sind die jetzigen Reformen hart und in Teilen ungerecht“, sagt Diamantopoulos. Es ändere aber nichts daran, dass der Großteil der Griechen das Spiel der Korruption und Günstlingswirtschaft mitgespielt hat – und zwar so lange, wie sie selbst davon profitierten. Jetzt, da sich das System gegen einen selbst richtet, wolle man nichts damit zu tun haben. Was Griechenland gerade durchlebe, ist für Diamantopoulos schlicht der historische Moment einer großen Offenbarung der eigenen Schwächen. Auch der moralischen.
Zorn auch über die deutsche Regierung
Der fanatisierte, zornige Teil der Protestbewegung will von all’ der Selbstkritik nichts wissen. Er ist deutlich kleiner als die Menge der Demokraten von Syntagma-Platz unten, dafür aber umso heftiger. Für die lauthals Empörten gibt es nichts zu diskutieren, sie wissen genau, dass es 300 Übeltäter sind, die den Staat ausgebeutet haben – und die sitzen alle im Parlament vor ihnen. „Diebe“ rufen sie. Und „Betrüger“. Und weil an Tagen wie diesen an Weltverschwörungstheorien nicht mangelt, hängt hier auch das einzige Hakenkreuz, gülden auf blauem Grund und umrandet vom Sternenkranz der Europäischen Union. Merkel und Sarkozy gleich Nazis steht darüber. Diese Europa-Flagge hat in Deutschland mediale Karriere gemacht. Eine ähnlich steile, wie die Fotografie vom betrunkenen Deutschen in Jogginghose, der am Tag nach der Ausländerhetze in Hoyerswerda in allen Gazetten der Welt den Arm zum Hitlergruß strecken durfte.
Aber zurück zum Syntagma-Platz, wo Deutschland nur eine Rolle spielt, nämlich so gut wie keine. Man muss die Menschen schon gezielt auf die abgekühlte Freundschaft zwischen den beiden Völkern ansprechen, um etwas mehr darüber zu erfahren. Und so sagt Spyros, ein mit Beginn der Krise arbeitslos gewordener Ingenieur, der sich als Pizza-Bote über Wasser hält: „Wir arbeiten länger als ihr, ihr sagt wir sind faul. Wir kaufen eure Autos, ihr sagt, wir sind Diebe. Wir bitten euch um Kredite, weil uns die internationalen Finanzmärkte an die Gurgel gehen, ihr lasst uns zappeln und betteln. Wer solche Freunde hat, der braucht keine Feinde.“ Einer, der das Gespräch belauscht hat, gesellt sich dazu, mischt sich ungefragt ein: „Angela Merkel zaudert doch immer, wenn es um wichtige Entscheidungen geht. Sie ist doch auch bei euch in Deutschland wegen ihrer zögerlichen Haltung unbeliebt, sollen wir sie dafür lieben?“
Nein, von Liebe ist auf dem Syntagma-Platz nicht die Rede. Mehr von Furcht und Sorge. Und von denen, die mit der Angst der Menschen und der Märkte viel Geld verdienen. „Du wachst morgens auf und weißt nicht, ob du noch eine Regierung hast, eine Arbeit oder ein Einkommen“, sagt Sophia. Das gehe an die Nerven, das halte kein Mensch auf Dauer aus. Nicht, wenn man allein ist. Auch deshalb sei sie hier, weil sie über ihre Verzweiflung reden will.
Andere gehen auf die Barrikaden. Sie wollen skandieren, nicht diskutieren. Dabei machen sie eine Handbewegung, die in Griechenland als Zeichen der Verachtung gilt. Dabei streckt man seinem Gegenüber die Handinnenfläche mit allen fünf gespreizten Fingers entgegen. Es heißt, diese Geste stamme aus dem Altertum, aus einer Zeit also, in der man Menschen an den Pranger stellte, um sie mit Schmutz zu bewerfen. Diese Bewegung ahmen die Protestierer nach. Statt die Rollläden des Parlaments runter zu lassen, könnte Papandreou einen riesigen Spiegel vor dem Parlament aufstellen. Die Griechen, die sich darin wiedererkennen, sie würden auf der Stelle verstummen.