Stuttgart. Laut jüngsten Umfragen könnte in Baden-Württemberg ein spektatulärer Regierungswechsel anstehen: Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik schickt sich ein Grüner an, Regierungschef in einem Bundesland zu werden: Winfried Kretschmann. Ein Porträt
In Baden-Württemberg bahnt sich ein politisches Erdbeben an: Wenige Tage vor der Landtagswahl liegt Grün-Rot einer aktuellen Umfrage zufolge weiter vor Schwarz-Gelb. Grüne und SPD erreichen demnach fünf Prozentpunkte mehr als Union und FDP. Das geht aus der jüngsten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Emnid hervor, die am Freitag veröffentlicht wurde. Im Vergleich zur Vorwoche verliert die FDP einen Prozentpunkt, die SPD gewinnt einen hinzu. Die CDU kommt somit auf 38 Prozent, die Grünen auf 25 Prozent, die SPD auf 23 Prozent, die FDP auf 5 Prozent und die Linke auf 4 Prozent.
Wenn es tatsächlich so kommt, dann könnten die Grünen am Sonntag Geschichte schreiben: Winfried Kretschmann hat gute Chancen, nach der Landtagswahl der erste grüne Ministerpräsident in Deutschland zu werden. In den jüngsten Umfragen liegt der 62-jährige Politiker mit dem silbergrauen Bürstenschnitt gleichauf mit Amtsinhaber Stefan Mappus. Dessen CDU stellt seit fast sechs Jahrzehnten den Regierungschef in Baden-Württemberg. "Nach 57 Jahren ist es Zeit für einen Wechsel", lautet Kretschmanns Parole für die Wahl.
Kretschmann zählt zum Urgestein der ökologischen Bewegung in Deutschland. Schon Ende der 70er Jahre protestierte er gegen die Atompolitik. 1980 pausierte er als Gymnasiallehrer für Biologie, Chemie und Ethik und zog mit fünf Parteifreunden in den Stuttgarter Landtag ein. Sechs Jahre später holte ihn Joschka Fischer ins hessische Umweltministerium. Nach vier Jahren Arbeit als Lehrer sitzt Kretschmann seit 1996 wieder im Stuttgarter Landtag, seit 2002 als Fraktionschef der Grünen.
Die Grünen sind ins Bürgertum vorgedrungen
Vor allem der Proteststurm gegen das Milliarden-Projekt Stuttgart 21 treibt den Grünen laut Umfragen die Wähler zu. "Wir sind die einzigen S-21-Gegner", sagt Kretschmann, der auf der Schwäbischen Alb aufwuchs. Die Grünen seien die einzige Partei, die sich gegen das insgesamt sieben Milliarden Euro teure Bahn-Projekt ausgesprochen habe. "Wir haben keinen Partner", sagt Kretschmann. Bei einer Regierungsbildung wären die Grünen auf die SPD angewiesen. Deren Spitzenkandidat Nils Schmid ist aber für Stuttgart 21 und will einen Volksentscheid durchsetzen.
Bei der Frage, wen die Baden-Württemberger lieber als neuen Regierungschef hätten, liegt Kretschmann laut Umfragen zufolge gleichauf mit Mappus oder erreicht nahezu die Werte des Amtsinhabers. In den vergangenen Jahrzehnten seien die Grünen weit ins Bürgertum vorgedrungen, sagt Kretschmann. Viele Selbstständige seien unter ihren Anhängern, die sich beispielsweise im Maschinen- und Automobilbau für "grüne Produktlinien" starkmachten. Nach der Atom-Katastrophe in Japan können die Grünen auch mit ihrem zentralen Thema Energie punkten: Sie wollen vier AKW in Baden-Württemberg so schnell wie möglich abschalten.
Von den Linken hat sich Kretschmann distanziert: "Ich bin aufgrund meiner linksradikalen Ausflüge während meines Studiums dagegen gefeit." (rtr)