Kairo. . Die Sicherheitskräfte in Libyen gehen immer gewaltsamer gegen regierungskritische Demonstranten vor. Nach Angaben von Menschenrechtlern wurden bereits über 100 Menschen getötet. Auch in Marokko formieren sich jetzt Protestler.

Beim gewaltsamen Einsatz der Sicherheitskräfte in Libyen gegen regierungskritische Demonstranten sind nach Angaben von Menschenrechtlern bislang über 100 Menschen getötet worden. Das erklärte die Organisation Human Rights Watch (HRW) am Sonntag unter Berufung auf Zeugen und Krankenhausmitarbeiter. Dramatisch war die Lage in Benghasi, wo es am Samstag schwere Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten gab.

Seit Beginn der Proteste am Dienstag gegen Staatschef Muammar Gaddafi habe es mindestens 104 Tote gegeben, sagte der Direktor des HRW-Büros in London, Tom Porteous. Er zeigte sich gegenüber der Nachrichtenagentur AFP „sehr besorgt, dass sich hinsichtlich der Menschenrechtssituation eine Katastrophe anbahnt“. Wegen der schwierigen Kommunikation in das Land stelle die Zahl der Todesopfer jedoch ein unvollständiges Bild der Situation dar. Die Regierung habe alle Internetverbindungen gekappt, zudem sei das Telefonnetz gestört. Nach AFP-Berechnungen kamen seit Dienstag mindestens 77 Menschen ums Leben.

Trauerzug mit Maschinengewehren angegriffen

Nach einem Bericht der Zeitung „Kurina“ wurden in der zweitgrößten Stadt Benghasi mindestens zwölf Menschen getötet und zahlreiche weitere verletzt. Eine Menschenmenge habe auf dem Weg zur Beisetzung zweier getöteter Demonstranten eine Militärkaserne mit Molotowcocktails angegriffen, sagte der Chefredakteur der Zeitung, Ramadan Briki, AFP unter Berufung auf Sicherheitskreise. Die Soldaten hätten darauf das Feuer auf die Menge eröffnet.

Ein Einwohner Benghasis, das als Oppositionshochburg gilt, sagte dem britischen Sender BBC, dass die Truppen den Trauerzug mit Mörsern und Maschinengewehren angegriffen hätten. Es habe sich um ein „Massaker“ an Zivilisten gehandelt, den Krankenhäusern würden bereits die Blutspenden ausgehen, berichtete der Sender El Dschasira unter Berufung auf Augenzeugen. Nach Angaben von Ärzten seien mindestens 15 Menschen getötet worden.

Geiselnahmen

In der ostlibyschen Stadt El Baida nahmen Islamisten mehrere Menschen in Geiselhaft. Eine „Gruppe islamistischer Extremisten“ habe „in den letzten Tagen“ Sicherheitskräfte und Bürger als Geiseln genommen, sagte ein ranghoher libyscher Beamter am Sonntag AFP. Die Kidnapper forderten „die Aufhebung der Belagerung durch die Sicherheitskräfte“, sagte der Beamte. Am Samstagabend habe es bereits Verhandlungen gegeben.

Libyens Generalstaatsanwalt Abdelrahman el Abbar eröffnete ein Verfahren zur Untersuchung der gewaltsamen Ausschreitungen, wie AFP aus einer mit den Vorgängen vertrauten Quelle erfuhr. „Alle, die Schuld an den Morden oder Plünderungen tragen“, sollten verurteilt werden. Am Samstag wurden dutzende Mitglieder eines arabischen „Netzwerks“ zur Destabilisierung des Landes festgenommen. Die Ermittler schlössen nicht aus, dass Israel hinter dem Netzwerk stecke, berichtete die staatliche Nachrichtenagentur Dschana.

Seit Dienstag protestieren Oppositionelle in mehreren libyschen Städten gegen Gaddafi, der seit dem Jahr 1969 an der Macht ist. Gaddafi selbst hat sich noch nicht offiziell zu den Protesten geäußert. Die Revolutionskomitees, die als Säulen der Regierung gelten, hatten die „Splittergruppen“ zuvor jedoch vor einem „vernichtenden“ Gegenschlag gewarnt.

Großbritannien und die USA warnten ihre Staatsbürger vor Reisen in den Osten Libyens. Österreich kündigte am Sonntag an, ein Militärflugzeug zur Rückholung seiner Staatsbürger sowie anderer europäischer Bürger nach Malta zu schicken.

Proteste auch in Marokko

Die Protest-Welle ist mittlerweile auch nach Marokko geschwappt: Mindestens 2.000 Demonstranten haben am Sonntag auf einem Protestmarsch in der marokkanischen Hauptstadt Rabat für Verfassungsänderungen und mehr Demokratie im Königreich demonstriert. In Sprechchören forderten die Menschen größere wirtschaftliche Freiheiten, Bildungsreformen, eine bessere Krankenversorgung und Beihilfen, um mit den steigenden Lebenshaltungskosten fertig zu werden.

Einige Polizisten in Zivil mischten sich unter die Demonstranten, hielten sich aber wie auch ihre uniformierten Kollegen größtenteils im Hintergrund. Unter den meist jungen Demonstranten waren auch kleinere Gruppen von Islamisten. Die Proteste richteten sich nicht gegen König Mohammed VI., sondern gegen das Parlament. (afp/dapd)