Tripolis/Madrid. . Die Lage in dem nordafrikanischen Erdöl-Staat Libyen gerät zunehmend außer Kontrolle: Die Demonstrationen gegen das Regime von Diktator Muammar al-Gaddafi (68) sprangen auf fast alle Städte im Osten und Westen des Landes über, mündeten in schwere Unruhen, die auch am Freitag weitergingen.
Die Lage in dem nordafrikanischen Erdöl-Staat Libyen gerät zunehmend außer Kontrolle: Die Demonstrationen gegen das Regime von Diktator Muammar al-Gaddafi (68) sprangen auf fast alle Städte im Osten und Westen des Landes über, mündeten in schwere Unruhen, die auch am Freitag weitergingen. Auch in Bahrain lässt das Regime auf das Volk schießen.
Etliche Regierungsgebäude standen in Flammen. Die Polizei schoss vielerorts mit scharfer Munition auf die Menschen, zivile Gaddafi-Milizen stachen mit Messern auf Regimegegner ein. Die Opposition berichtet über Dutzende Tote und Hunderte Verletzte.
Die Menschenrechtsgruppe Human Rights Watch dokumentierte bisher 24 Todesopfer. Die in London erscheinende Oppositionszeitung „Libya Al Mostaqbal“ sprach von bislang 75 Toten. Doch die wirkliche Zahl der Opfer könnte noch größer sein, wie inoffizielle Berichte andeuten - zumal die bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen weitergehen.
Auch in Bahrain wird geschossen
Bei einer Kundgebung der Opposition hat die Polizei am Freitag auf die Demonstranten geschossen. Dabei wurden dutzende Menschen verletzt, wie ein Fotograf der Nachrichtenagentur AFP aus der Hauptstadt Manama berichtete. Es war die erste Kundgebung in dem Land, seit bei der gewaltsamen Niederschlagung von Protesten in der Nacht zum Donnerstag vier Menschen getötet worden waren. Der Kronprinz von Bahrain, Salman ben Hamad el Chalifa, versprach derweil einen Dialog mit der Opposition, sobald in dem Golfstaat wieder Ruhe eingekehrt sei.
Seit Beginn der regierungskritischen Demonstrationen am Montag kamen laut Opposition sechs Menschen ums Leben. Die Protestbewegung umfasst in dem gerade einmal eine Million Einwohner zählenden Emirat die mehrheitlich schiitische Bevölkerung, die gegen die sunnitische Dynastie unter König Mohamed bin Issa el Chalifa aufbegehrt. Die Schiiten bemängeln vor allem Diskriminierungen auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt sowie bei den Sozialdiensten.
In Libyen womöglich knapp 100 Tote
Allein in der zweitgrößten libyschen Stadt Benghazi sollen nach Angaben von Einwohnern bisher etwa 50 Menschen umgekommen sein, in Al Bayda annähernd 35, in Derna 12, in Ajdabia mindestens sechs. Auf Amateurvideos im Internet sieht man Tote auf den Straßen und Menschen, die im Kugelhagel zusammensinken.
Die Informationsbeschaffung ist sehr schwierig, da Gaddafi mit einer eisernen Nachrichtenblockade das Drama totschweigen will: Libyens Journalisten dürfen über die Unruhen kaum berichten, ausländische Berichterstatter werden nicht ins Land gelassen. Internet, Telefonlinien und Strom wurden vielerorts abgeschaltet.
Geheimdienst kontrolliert Kommunikationsnetze
Vor allem über den Mikroblog Twitter und mit Hilfe von Handy-Videos im Internetnetzwerk Youtube versuchen Regimegegner, dutzende kleine Revolutions-Szenen in die Welt zu senden - solange es noch funktioniert. Gaddafis Geheimdienst kontrolliert systematisch alle Telefon- und Internetkommunikationen und macht Jagd auf jene, die „staatsfeindliche Aktivitäten“ ausüben. Dutzende Regimegegner sollen festgenommen worden sein, nachdem sie mit dem populären arabischen Nachrichtensender Al Dschasira telefoniert oder in Facebook über die Lage in ihrer Stadt berichtet haben.
Libysche Polizisten „beschossen und töteten die Demonstranten, um die Proteste aufzulösen“, berichtete Human Rights Watch (HWR) unter Berufung auf Augenzeugen. Die schlimmsten Massaker gab es offenbar in den beiden Großstädten Benghazi (700.000 Einwohner) und Al Bayda (300.000 Einwohner) an der östlichen Küste Libyens.
Notrufe der Ärzte
Ärzte des Krankenhauses Al Bayda setzten via Twitter Notrufe ab. „Wir brauchen dringend Medikamente und Verbandsmaterial, helft uns bitte.“ Laut HWR liegen im Hospital Al Baydas mindestens 70 Verletzte mit Schussverletzungen, davon viele in kritischem Zustand.
Die Beerdigungen der Opfer in Al Bayda verwandeln sich in immer neue Demonstrationen, auf denen die Menschen skandieren: „Nieder mit dem Regime. Gaddafi, hau ab.“ Ähnliche Szenen spielen sich im 200 Kilometer entfernten Benghazi ab, wo seit Tagen Zehntausende für ein Ende der Gaddafi-Diktatur demonstrieren. Auch dutzende Anwälte und Richter demonstrieren vor dem Gerichtsgebäude Benghazis für Reformen und gegen Korruption. Benghazi und Al Bayda im östlichen Libyen sind schon immer die Zentren der Opposition, weil die dortigen Stämme Gaddafi nicht unterstützen und deswegen mit der Verweigerung von bitter notwendigen Investitionen bestraft wurden.
Tripolis schwer bewacht
In der schwer bewachten Hauptstadt Tripolis (1,6 Millionen Einwohner) kam es bisher nur zu kleineren Anti-Gaddafi-Protesten. Dafür sorgt hier die Propaganda-Maschine des libyschen Despoten, der seit 42 Jahren an der Macht ist, dass doch noch die erwünschten staatstragenden Jubelbilder Dank des Staatsfernsehen durch die Welt flimmern: Gaddafi höchstpersönlich gönnte sich ein öffentliches Bad in der Menge, unter den Anhängern seiner „Volksherrschaft“, die ebenfalls seit Tagen mit den grünen Fahnen der Gaddafi-Revolution und großen Bildern ihres „Revolutionsführers“ durch die Innenstadt ziehen.
In vielen anderen Städten gingen derweil Gaddafi-Fotos in Flammen auf. Genauso wie viele Gebäude der lokalen „Revolutionskomitees“, wo Gaddafis Stadtfürsten herrschen, mit Brandsätzen angegriffen wurden. Auch Kommissariate und Polizeiwagen brannten, wie Augenzeugen berichteten. Auf einem Video ist zu sehen, wie Demonstranten in dem Ort Tobruk, im Osten des Landes, ein Gaddafi-Denkmal niederreißen, mit dem das vom ihm verfasste „Grüne Buch“ seiner wirren Wüsten-Revolution verherrlicht wurde. Auch aus den Orten Zentan, Ajdabia, Derna und Rijban wurden schwere Unruhen gemeldet. Das alles spricht dafür, dass die Unterdrückungstruppen Gaddafis die Lage nicht mehr überall unter Kontrolle haben.
Gaddafi-Sohn abgetaucht
Die staatstragende libysche Zeitung „Al-Watan“ meldete derweil, dass der Gaddafi-Spross Al-Saadi, der bisher vor allem als Fußball-Profispieler und Filmproduzent aufgefallen war, nun im Auftrag des Patriarchen im rebellischen Ost-Libyen die vernachlässigte Infrastruktur auf Vordermann bringen soll. Sein jüngerer Bruder Mutasim Billah steuert derweil als Chef des nationalen Sicherheitsrates die blutige Niederschlagung des Aufstandes.
Hunger nach Freiheit
Der größte Hoffnungsträger des Westens, Gaddafi-Sohn Saif al-Islam, ist hingegen von der Bildfläche verschwunden. Er war immer wieder für Demokratisierung eingetreten und hatte sich als Vermittler zwischen der arabischen und der westlichen Welt eine gewisse Achtung erworben. Er gilt als der einzige im Gaddafi-Clan, der kein Blut an den Händen hat. Doch falls Gaddafi in seiner derzeit wohl schlimmsten Machtkrise den Kampf mit dem Volk tatsächlich verlieren sollte, dürfte wohl gleich die ganze Herrscherfamilie verjagt werden. „Die Libyer“, sagte der im Exil lebende Schriftsteller Hisham Matar, „haben einen großen Hunger nach Freiheit.“