Magdeburg. .

Bei einem schweren Zugunglück sind in Sachsen-Anhalt mindestens zehn Menschen getötet worden. Die Katastrophe könnte die Debatte über nötige Investitionen in das Bahnnetz neu entfachen. Denn auf der Unglücksstrecke fehlt moderne Sicherheits-Technik.

Den Rettungskräften bietet sich ein schreckliches Bild. Ein Triebwagen des Harz-Elbe-Expresses (HEX), der am Samstagabend etwa 40 Ausflügler von Magdeburg nach Halberstadt bringen sollte, liegt in Hordorf bei Oschersleben völlig zertrümmert auf einem Acker. Die ersten vorderen Sitzreihen des modernen Triebwagens sind bis zum vierten Fenster zermalmt. Türen ragen in die Luft, herausgerissene Sitze liegen vor dem Waggon. Am späten Samstagabend waren auf der eingleisigen Strecke ein Personenzug des Harz-Elbe-Express mit einem Güterzug frontal zusammengeprallt.

Die Bundespolizei spricht von zehn Toten und 23 Verletzten. Unter den Opfern sollen auch zahlreiche Jugendliche sein. Die Opfer wurden von einem Großaufgebot an Rettungskräften in die umliegenden Krankenhäuser gebracht. Angesichts der hohen Zahl an Schwerverletzten sei zu befürchten, dass die Zahl der Toten noch weiter steigen könnte.

Automatisches Warnsystem fehlte

Zu dem Zusammenstoß kam es gegen 22.30 Uhr bei starkem Nebel, nach ersten Angaben von Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Wolfgang Böhmer (CDU) „wohl wegen eines überfahrenen Haltesignals“. Nach WAZ-Informationen soll die Strecke nicht mit einem automatischen Warnsystem ausgestattet sein, das anschlägt, wenn Signale missachtet werden. Während Lok und die Wagen des Güterzugs in den Schienen stehen blieben, wurden der viel leichtere und mit rund 50 Fahrgästen zu etwa einem Drittel besetzte Triebwagen aus den Schienen gehoben.

Der erste Teil des Zuges der Privatbahn Veolia wurde völlig zerstört. Auch der Lokführer und die Zugbegleiterin starben in dem Wrack. Die Identifizierung der Toten dauerte noch bis in den Sonntagabend. Der Einsatzleiter der Bundespolizei wollte sich nicht auf eine Unfallursache festlegen.

Kollisionen auf eingleisigen Streckenabschnitten hat es in der Nachkriegsgeschichte öf­ter gegeben. In Radevormwald starben 1971 auf einer Klassenfahrt 45 Schüler. Vier Jahre später forderte ein Unglück im bayerischen Warngau 38 To­desopfer und 112 Verletzte. Et­wa ein Drittel des deutschen Bahnnetzes ist nur eingleisig ausgebaut.

"Verkehrsministerium toleriert sicherheitsrelevante Mängel"

Die Katastrophe in Hordorf bei Oschersleben könnte der Debatte über notwendige In­vestitionen in das Bahnnetz, die wegen der Winterpannen seit Wochen auf hohen Touren läuft, erneut Schub geben. Ex­perten halten Investitionen von fünf Milliarden Euro pro Jahr für nötig. Tatsächlich fließen jährlich zwischen drei und vier Milliarden.

Der Bundesrechnungshof hat 2009 auf bestehende Sicherheitsdefizite hingewiesen: „Das Bundesverkehrsministerium toleriert sicherheitsrelevante Mängel.“ Die Quote der Beanstandungen bei technischen Überprüfungen sei, be­sonders beim Zustand von Gleisen, Brücken und Bahnhöfen, seit 2004 von 34 auf 49 Prozent gestiegen. Das Eisenbahnbundesamt mahnte die Bahn gleichzeitig, ihr fahrendes Personal bei ungünstigen Wetterbedingungen eher zu warnen.

Laut Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer, der am Abend die Unfallstelle besuchte, war noch nicht geklärt, ob das Fehlen dieser eines automatischen Warnsystems auf der betroffenen Strecke ursächlich für das Unglück gewesen sei. "Die Ermittlungen lassen bis zum jetzigen Zeitpunkt keine definitive Schlussfolgerung zu, deshalb verbietet es sich hier, in Spekulationen zu ergehen", sagte der CSU-Politiker.

"Sprachlos und geschockt von den Bildern"

Die Züge krachten den Angaben nach bei Nebel und zweistelligen Minusgraden mit etwa Tempo 80 ineinander. Die Wucht des Aufpralls war so heftig, dass der Personenzug komplett aus dem Gleisbett auf den angrenzenden Acker geschleudert wurde, während der aus Magdeburg kommende, deutlich schwerere Güterzug auf den Schienen stehen blieb.

"Sie sehen uns alle noch ziemlich sprachlos und geschockt von den Bildern, die wir gesehen haben, und von den Eindrücken, die die Kraft der Zerstörung hinterlassen haben", sagte Hövelmann. Der Leiter des Polizei-Reviers Börde, Armin Friedrichs, sagte, bislang seien erst zwei Tote identifiziert worden. Viele der Opfer hätten keine Ausweispapiere mit sich getragen. Die Polizei richtete unter der Nummer 0391-5461412 eine Hotline für Angehörige ein.

Bundeskanzlerin Angela Merkel und Außenminister Guido Westerwelle reagierten zutiefst bestürzt. "Meine Gedanken sind bei den trauernden Familien der Opfer. Ihnen gilt mein aufrichtiges Mitgefühl", teilte die Kanzlerin mit. Wie Merkel dankte auch Westerwelle den vielen Helfern für ihren Einsatz: "Wir sind dankbar und beeindruckt, was viele Helferinnen und Helfer in so schwerer Stunde geleistet haben", sagte der Außenminister unmittelbar vor seinem Abflug nach Israel.

Beide Züge von privaten Gesellschaften

Auch Deutsche-Bahn-Chef Rüdiger Grube reagierte entsetzt. "Selbstverständlich werden wir alles uns Mögliche tun, um die am Unfall Beteiligten zu unterstützen." Beide Züge wurden von privaten Gesellschaften betrieben. Für Gleise, Stellwerke und die Freigabe einer Strecke ist die Deutsche Bahn zuständig. Der Harz-Elbe-Express fährt für den französischen Konzern Veolia, der zahlreiche Regionalstrecken in Deutschland bedient. Es sei das schlimmste Unglück in der langjährigen Geschichte des Bahnbetreibers in Deutschland, sagte Jörg Puchmüller, Pressesprecher der Veolia Verkehr Region Nord-Ost. Seinen Angaben zufolge war in dem Zug Platz für rund 150 Menschen. Er sei zu etwa einem Drittel gefüllt gewesen.

Unterdessen wird weiter fieberhaft nach den Ursachen des Unglücks gefahndet: Die Nebenstrecke Halberstadt-Oschersleben ist mit Signalen gesichert wie jede andere Bahnstrecke in Deutschland, die nicht nur dem Werksverkehr dient. Dabei spielen die Besitzverhältnisse keine Rolle, wenngleich sie bei diesem Unfall das Geschehen auf deutschen Bahngleisen geradezu beispielhaft abbilden: Zwei Züge von Privatbahnen stoßen auf einem Gleis der Deutschen Bahn AG zusammen.

Signal in Handbetrieb?

Wenn also die Signale funktioniert haben, und darauf deuten die bisherigen Aussagen der Ermittler hin, muss einer der beiden Lokführer bei Rot durchgefahren sein. Damit stünde die Ursache fest: menschliches Versagen. Trifft das auf den überlebenden Lokführer zu, so wird es am Ende ein Gerichtsverfahren gegen ihn geben.

Normalerweise werden Züge, die ein rotes Signal überfahren, automatisch gestoppt. Für Strecken, auf denen die Züge schneller als 100 km/h fahren, ist dies Vorschrift. Auf Strecken, auf denen langsamer gefahren wird, ist es eine Kann-Regel. Auf der Strecke Halberstadt-Oschersleben galt sie nicht. Hintergrund: Beim Zusammenschluss von Bundes- und Reichsbahn 1994 musste die Deutsche Bahn AG beginnen, alle Strecken der ehemaligen DDR zu modernisieren. Dort waren marode und geradezu historische Zugsicherungssysteme an der Tagesordnung; entsprechend langsam fuhren die Züge. Vor Unfällen waren sie trotzdem nicht gefeit. Die Modernisierung ist auch 16 Jahre nach der Bahnreform noch nicht abgeschlossen. Selbst wenn das Ministerium diese Ausrüstung mit Zugbeeinflussung also vorgeschrieben hätte, war abzusehen, dass es Jahre dauert, bis die Arbeit erledigt ist.

"Signalanlage aus Zeiten der DDR"

Das Nachrichtenportal "news.de" berichtete am Sonntag von einem Lokführer, der die fragliche Strecke häufig befahren haben soll. Er erklärte, die Signalanlage an der Unfallstelle sei noch eine der wenigen, die nicht an das elektronische Stellwerk in Leipzig angeschlossen ist. "Es handelt sich um eine herkömmliche Signalanlage aus Zeiten der DDR." Das Lichtsignal werde von einem Fahrdienstleiter gestellt, "der an der Strecke in einem Häuschen sitzt". Hat dieser aufgepasst, so bleibt das "menschliche Versagen" doch wieder bei dem Lokführer, auch wenn es ein komplizierter Streckenabschnitt ist, wie der Insider zu Protokoll gab. Unter anderem deshalb halten sich alle Arbeitgeber im Eisenbahnverkehr strikt an die Forderungen der Gewerkschaften, dass Lokführer Streckenkenntnis haben müssen, bevor sie auf den "Bock" dürfen. (Mit Material von dapd)