Duisburg. .

Das Foto vom Mann am Mast, der sich in der Loveparade rettet, ging um die Welt. Wolfgang Friese aus Xanten und seine Freundin Stefanie können den 24. Juli 2010 nicht vergessen. Sie steckten mittendrin.

Wolfgang Friese ist der Mann vom Foto. Sein Gesicht ist kaum zu sehen, und doch ist er bekannt in der Welt: der Kletterer im Vordergrund, mit dem schwarzen Shirt, an dem sich die Massenbilder der Loveparade festhalten. Der Mann auf dem Mast.

Wolfgang Friese, 40, Bilanzbuchhalter. Wohnhaft am Stadtrand von Xanten, Haus mit Garten für die Kinder – nicht gerade der typische Raver, auch wenn er einen Ohrring trägt und um den Hals ein ledernes Band. Aber er war 2008 in Dortmund, es hat ihm gut gefallen, und dieses Jahr will er seiner Lebensgefährtin die Loveparade zeigen. „Wir gehen da mal hin“, haben sie entschieden, Wolfgang und Stefanie, „ein, zwei Stunden und wieder nach Hause.“

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Also bringen sie die beiden Kinder zu den Eltern nach Duisburg, von dort ist es nicht weit zum Paradeplatz, um kurz vor vier am 24. Juli stehen Wolfgang Friese und Stefanie Podeszwa, 37, Erzieherin, in der Schlange kurz vorm Tunnel. Sie haben Vertrauen in die Veranstalter, „die werden sich das tausendmal überlegt haben.“ Also wenden sie sich dorthin, „wo alles hinströmte“. Weiter hinten sehen sie Polizei, stehen wohl 15 Meter vor etwas, das sie als Personenschleuse verstehen. „Wenn wir die geschafft haben“, denkt Stefanie, „sind wir durch.“

Doch es gibt bereits Leute, die mit der Enge nicht klarkommen, an „Panikattacken“, erinnert sich Wolfgang, „aber raus kam man schon nicht mehr“. Sie kriegen mit, wie der Rettungswagen in die Menge drängt, auf einmal bewegen sich die Leute, sie haben eine Sperre durchbrochen, aber das wissen die beiden nicht. Die denken: „Jetzt geht’s endlich los“ und schwimmen mit der Masse, die feiert und singt, Wolfgang weiß es noch: „Seven Nation Army“ von den „White Stripes“. Es hallt herrlich im Tunnel.

Mir brechen die Rippen

Doch „buff, auf einmal standen wir“, mittendrin, dabei wollte Stefanie vom Rand aus gucken, aber „man konnte das gar nicht steuern“. Man sieht nichts, alles passiert von allein, und plötzlich teilt sich die Masse, links drängt sie auf die Treppe zu, rechts auf diesen stählernen Mast, „es drückte in alle Richtungen“. Wolfgang und Stefanie wissen instinktiv: Wir müssen hier raus. Sie suchen den kürzesten Weg, aber sie werden schon geschoben auf den Mast zu, „wie Magnetpole“ saugen die einzigen Fluchtwege die Menschen an.

„Mir brechen die Rippen”, denkt Stefanie im Druck der Menge, „wenn hier einer fällt, hat er verloren.“ Die 37-Jährige hat Mühe, die Schultern vorn zu halten, es ist, als zöge jemand von hinten. Die Masse bewegt sich in Schüben, Menschen werden, sagt Wolfgang, zu „Dominosteinen“. Laut ist es hier unten zwischen den Mauern, der Krach kommt nicht von der Musik oben auf dem Bahnhofsgelände: Es sind die Schreie der Menschen. „Sie haben geweint, gepöbelt, geschrieen“, manche, fast ohnmächtig, werden nur durch die Körper der Umstehenden aufrecht gehalten. Andere „haben noch gar nicht erkannt“, was passiert, da sind noch lachende Gesichter. Stefanie zieht es die Schuhe aus. Wie sie die wieder anbekommt, verschwindet in einer der Erinnerungslücken.

Willst du hier sterben?

Selbst Wolfgang nimmt sie kaum mehr wahr; merkt erst, als sie auseinander gerissen werden, dass sie

sich an der Hand gehalten haben, hoch über den Köpfen. Das war wohl ihr Glück, dass sie so groß sind. „Die anderen waren doch blind eingequetscht.“ Sie bewegen sich automatisch voran, wie ferngesteuert von ihrem Selbsterhaltungstrieb. „Jeder war damit beschäftigt, nicht umzufallen“, sagt Wolfgang, „das war höchste Lebensgefahr“! Wie gelähmt bleiben ein paar junge Leute vor ihnen tatsächlich liegen, „steht auf!“, schreien sie sie an, „willst du hier sterben“?

Vorn sehen sie, wie vor dem Mast der Bauzaun einstürzt, „zusammengefaltet wie Papier“ liegt er im Dreck. Jemand klettert hinauf, winkt triumphierend von der Betonkante. Auch Wolfgang hat den rettenden Mast schon vor sich, „zwei Armlängen, aber ich kam nicht dran“. Mit der nächsten Welle packt er zu. „Kümmer dich um sie!“, ruft er einem Unbekannten zu. Auf Fotos ist das zu erkennen: am Fuße des Gestänges Wolfgang mit gespannten Muskeln, dahinter ein Mann im grünen T-Shirt, der seinen Arm um Stefanie legt. Vier, fünf Personen trennen sie da noch vom Rettungsweg nach oben.

Und eine, die sich vor lauter Angst nicht traut. Der Mann steht Stefanie im Weg. Und plötzlich drückt die Menge wieder von hinten, presst Stefanie gegen den Mann, ihren Arm gegen seine Kehle; sie sieht die Panik in seinen Augen – und schreit. Einen Moment lang lässt die zuckende Masse ihr Luft, den Arm wegzuziehen, der Fremde packt den Mast und zieht sich hoch, Stefanie hinterher.

Was ist bloß passiert?

Es war nicht schwer, erzählt sie später, der Mast mit seinen Querstreben ist wie eine Leiter. Doch sie hat es zu eilig, von oben trifft sie ein Fuß im Gesicht. Es schmerzt furchtbar, aber Stefanie braucht ihre Hände, um sich festzuhalten. Oben bemerkt sie, dass ihre Wimpern ausgerissen sind, „ein harmloser Unfall“, sagt sie, das hätte ins Auge gehen können. „Ich hab total Glück gehabt.“ Als sie oben über das Geländer gezogen wird, kommen ihr die Tränen; es war so anstrengend, nun ist da wieder Raum zum Atmen. Gegenüber sehen sie die Leute auf die Treppe klettern, die drangvolle Enge, nur Köpfe und Arme, „kein Wunder, dass viele ohnmächtig wurden“. Wo sie jetzt sind, ist Verzweiflung, hinter ihnen „immer noch Party“, aber unten „so die Hölle, das ist fast tödlich da“. Fast?

Das Gefühl für Zeit haben sie verloren, aber es ist 16.51 Uhr, als Stefanie ihrer Mutter eine SMS schickt: Uns geht es gut. Dann wollen sie nur noch weg. Zwei Kilometer sind sie wohl gewandert, in der Ferne sehen sie die Bühne und die Autobahn, voller Polizei, und Wolfgang denkt: „Was ist denn jetzt?“ Da sind Rettungsfahrzeuge, Feuerwehr, sie hören die Sirenen, und fragen einen Polizisten: Was ist denn bloß passiert? „Zehn Tote“, sagt der und hätte das wohl gar nicht gedurft – da hat Stefanie „nur noch geweint“. Wolfgang ist eher wütend: Er hört ja noch die Musik von drüben, „die können doch nicht weitermachen“. Erst später begreift er, was noch hätte passieren können, wäre die Parade einfach abgebrochen worden.

Wir wollten reden

Wolfgang und Stefanie wollen jetzt nur noch nach Hause, sie brauchen Stunden dafür. Halb elf am Abend ist es, als sie endlich ankommen in Xanten, und auch da können sie unmöglich schlafen. „Wir wollten reden“, zum Glück sind noch Nachbarn wach. Später sitzen sie allein im Dunkeln und reden und reden, und so machen sie es auch weiterhin: „tagaus, tagein“, auch in den folgenden Wochen. Heute glauben sie, dass ihnen das geholfen hat, alles zu verarbeiten. Die Bilder der Loveparade haben sie aufbewahrt, diese Aufnahmen, die die Zeitungen weltweit druckten. Mit Wolfgang Friese, dem Mann auf dem Mast, und unter ihm die Masse der Menschen. Es ist wie ein Beweisfoto: der Katastrophe entronnen.